Gute Leute: Roman (German Edition)
ausfallen.
Zugegeben, das Modell, das man in der Warschauer Filiale der Milton-Group erarbeitet hatte, war weitreichend und eindrucksvoll. Es musste nur noch neu formuliert werden. In der ursprünglichen Version gab es etwa ein Kapitel, das sich mit den Handelsgepflogenheiten der polnischen Juden befasste. Jetzt würde es eine Auffrischung erfahren und, ins Unreine gesprochen, eine Überschrift wie »Handhabe für den Umgang mit dem polnischen Juden« verpasst bekommen.
Es war eine großartige Gelegenheit, die erste Arbeitsofferte seit Monaten, die seinen Fähigkeiten entsprach (wenn man von dem Angebot absah, Berater dieser anstrengenden Frau zu werden, dieser Scholtz-Klink, der »Reichsfrauenführerin«), weshalb es sich jetzt empfahl, bloß keinen falschen Schritt zu tun. Aber einen Schriftsatz für Leute aufzusetzen, die man nicht kannte, deren Bestrebungen und Machtkämpfe untereinander man nicht verstand, war genau so, als ob man sich einen Schal vor die Augen bände und die Passanten auf der Straße mit Schmähreden überfiel: Es gab eine geringe Chance, dass sie solche Zoten mochten, aber wahrscheinlicher war, dass man Prügel bezog.
Am Ende beschloss er, ein kurzes Positionspapier aufzusetzen, das die allgemeinen Grundsätze des polnischen Modells beinhaltete, und ein Angebot beizufügen, seine Dienste als Berater in Anspruch zu nehmen. Erst danach würde er ihnen den kompletten Schriftsatz zukommen lassen.
***
Der von ihm vorgelegte Schriftsatz – »Ein interdisziplinäres Modell: Der Idealtypus des nationalen polnischen Menschen« – umfasste zwölf Kapitel und stieß bei der Führungsspitze des Auswärtigen Amtes auf Wohlwollen. Da die Zeit drängte, las man das Papier dort in aller Eile und verbreitete es umgehend unter den verschiedenen Reichsorganen. Nur eine Woche später, am Vorabend des Einmarschs in Polen, kamen dringende Anfragen von der SS, dem Wirtschafts-, Innen-, Justiz- und Propagandaministerium, von Hermann Görings Ministerium, von Fritz Todt – der jetzt die meisten technischen Aufgaben des Reiches auf seine Person konzentriert hatte, weshalb Thomas große Wertschätzung für ihn hegte – sowie von Wehrmachtskommandeuren und Forschungsinstituten, die mit Osteuropa befasst waren. Alle wollten sich mit Thomas treffen, lobten seine Ausführungen, äußerten hier und da Vorbehalte und brachten vor allem Ideen bezüglich ihrer jeweiligen künftigen Aufgabe in Polen vor. Dutzende von Fragen zu einer Vielzahl von Themen prasselten auf ihn ein, so etwa hinsichtlich des zu erwartenden Widerstands der Polen gegen einen Machtzuwachs der Volksdeutschen in lokalen Belangen, welche Maßnahmen wünschenswert wären, um die polnische Intelligenz auszuschalten, wie man mit polnischen Wirtschaftsunternehmen umgehen solle oder welche Weltanschauung der polnische Klerus vertrete. Auch wurde er gefragt, ob sich seiner Meinung nach in Polen ein Protektorat errichten ließe, welche Unterschiede zwischen dem deutschen und dem polnischen Juden bestünden, man befragte ihn zur Stellung der Zigeuner in der polnischen Gesellschaft, zum Arbeitsvermögen der polnischen Frau und anderem mehr.
Das Kapitel seines Papiers, das sich mit einem Vergleich zwischen der Haltung der Polen zum deutschen Reich und ihrer Einstellung zur Sowjetunion befasste und von Thomas als das brillanteste betrachtet wurde, weckte in der Tat besonders großes Interesse. Unter anderem auch deshalb, weil es darin um eine Idee ging, die Thomas für abwegig hielt, die aber viele in den höheren Chargen faszinierte: schädliche Elemente vor allem aus den Kreisen der Intelligenz zu ermutigen, in die Landstriche überzusiedeln, die von den Sowjets besetzt werden würden. Sein Schriftsatz hatte dieser Idee eine harsche Abfuhr erteilt. Thomas war überzeugt, der Hass, den der Pole gegen den Russen hege, werde jeden Versuch einer Umsiedlung zum Scheitern verurteilen. Die einzig praktikable Möglichkeit sei entweder »eine Forcierung der Umsiedlung mit drastischen Mitteln« oder eine Vertreibung.
Schon bald wurde im Auswärtigen Amt beschlossen, ein Seminar abzuhalten, in dessen Mittelpunkt Thomas’ Modell stehen sollte. Vertreter der verschiedenen Behörden und Organe sollten eingeladen werden. Ernst von Weizsäcker, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, ließ mitteilen, er werde dem Seminar persönlich vorstehen. Die Zusammenkunft müsste selbstverständlich streng geheim bleiben, und alle Beteiligten hätten sich zu verpflichten, mit
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