Gute Leute: Roman (German Edition)
gewesen sei und wie sie den Abend verbracht habe, wollte, dass sie noch ein bisschen in seiner Nähe bliebe. In jenen Augenblicken war er von Freude und Hoffnung erfüllt. Manchmal kehrte sie auch nicht in seine Wohnung zurück, übernachtete bei einer ihrer Freundinnen oder in der Wohnung ihrer Eltern, und dann schlief er im Salon ein oder schleppte sich in sein Zimmer, wenn in den Fenstern bereits der Morgen graute.
Nicht nur Thomas verfolgte Klarissas Nächte. Wie sich herausstellte, beschäftigten sie auch Karlchen, ihren sieben Jahre alten Bruder, der mit jeder Faser seines Herzens an ihr hing. Von dem Moment an, da er herausgefunden hatte, dass sie in der Wohnung des Nachbarn zu schlafen pflegte – Thomas hatte sie nie gefragt, ob diese Regelung eine Art vorsichtige Rebellion gegen ihre Eltern darstellte –, klopfte er regelmäßig früh am Morgen an die Tür. Wenn seine Schwester da war, brachte sie ihn in die Wohnung der Eltern zurück, manchmal aber legte sie ihn auch in ihr Bett, je nachdem, so ihre Worte, welche Lektion sie ihm erteilen wollte, wobei Thomas den Verdacht hegte, dass sie ganz nach Lust und Laune entschied. Und es war schon vorgekommen, dass Karlchen zu besonders früher Stunde an die Tür geklopft hatte, Thomas vor ihm stand, ihn mit blinzelnden Augen anschaute und sagte: »Mein lieber Junge, auch ich suche deine Schwester.« Danach hatte er ihm ein Glas warme Milch gemacht, und gemeinsam hatten sie auf Klarissa gewartet.
Der Junge hatte ihn gefragt: »Wo arbeitest du? Klarissa sagt, du warst einmal ein großer Mensch, sie sagt, dass du jetzt zu Hause sitzt und dich beklagst und dass sie dir hilft, wieder ein großer Mensch zu sein.«
Thomas hatte gelacht: »Kann denn ein großer Mensch aufhören groß zu sein?«
Der Junge hatte ihm einen erzürnten Blick geschenkt, auf seine Milch gepustet und ihn keiner Antwort gewürdigt. Genau wie Klarissa, wenn ihr etwas nicht passte.
Zerstreut wanderte Thomas von einem Zimmer ins andere, er goss sich einen Cognac ein und ließ sich im Arbeitszimmer nieder. In letzter Zeit hatte er sich das Pfeiferauchen abgewöhnt. Das Rauchen erinnerte ihn an die verqualmten Büros bei Milton, und zudem hatte er beschlossen, etwas Sport zu treiben und mit einigen ungesunden Angewohnheiten zu brechen. Er wollte sich einem Schwimm- oder Ruderverein anschließen, hatte bereits die Aufnahmeanträge gestellt und wartete auf eine Antwort. In der Zwischenzeit machte er zweimal in der Woche zu Hause einige gymnastische Übungen.
Ein graues Vögelchen pickte vom Fenstersims Brotkrumen auf, die Klarissa dort hingestreut hatte. Ein Windstoß blähte den schweren Vorhang, und das Vögelchen verschwand.
Thomas betrachtete das halbdunkle kleine Arbeitszimmer, zu Lebzeiten seiner Mutter ein Raum voller Andenken und altem Trödelkram. Es war eine gute Idee von Klarissa gewesen, das Zimmer zu entrümpeln. Doch in ihrer Abwesenheit traf ihn wie ein Schlag die Erkenntnis, dass er hier seine Tage bis zum Ende in vollkommener Einsamkeit verbringen würde. Mit einem Mal wurde er von der Gewissheit des Todes übermannt, die alle anderen Überlegungen hinwegfegte. Der Tod war furchterregend, aber noch furchterregender waren die Jahre, die seine Mutter immer die »Vestibüljahre« genannt hatte, jene, die dem Tod vorausgingen und schon zu seinem Reich gehörten. Er hatte schon als Kind das Gefühl gehabt, in einem Teil seiner Seele pulsiere überhaupt kein Leben und er habe keine andere Wahl, als diesen Teil mit resignierendem Grauen zu betrachten.
Er konnte einen Fluch nicht unterdrücken. Fest entschlossen lenkte er seine Gedanken wieder auf das Treffen mit Weller. Offenbar hatte er nur zwei Möglichkeiten: Entweder, einen originellen Bericht zu verfassen und dafür eine schöne Stange Geld zu verlangen, da es sich um eine einmalige Zahlung handelte, wohingegen sein Schriftsatz durch verschiedene Ämter und Abteilungen wandern würde. Wenn der Bericht nicht die üblichen Ansichten über die Polen enthielte, könnte man ihn am Ende jedoch beschuldigen, von den Grundsätzen der Partei abgewichen zu sein und Sympathie für Slawen und Asiaten zu hegen. Die andere Möglichkeit war, einen Report zu verfassen, der es bei den altbekannten Schmähungen beließe. Das aber könnte beim Auswärtigen Amt den Eindruck erwecken, er sei ein Idiot, und dann würde man ihn abblitzen lassen. Mit beiden Optionen gleichzeitig jonglieren? Das Resultat musste zwangsläufig dürftig
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