Gute Leute: Roman (German Edition)
aufgebrochene Türen und Fenster blickte man in verwüstete Wohnungen. Mehrfach kamen sie an zerstörten Häusern vorüber, deren Steine allmählich abgetragen wurden. Eine Gruppe junger Leute lag in exakt ausgerichteter Reihe auf dem Boden und glättete den Sand. Sie wurden von drei Landsern bewacht, die auf und ab schritten und Zigaretten rauchten. Ein paar polnische Kinder fuhren in Schubkarren weiteren Sand an, manövrierten geschickt zwischen den Passanten hindurch. Leise gesprochenes Polnisch, vorsichtiges Räuspern und im Ansatz unterbrochene Gesten, diese zitternde Erwartung eines neuen Urteils und die unterdrückte Spannung, die über der Straße lagen – von dem wilden, überwältigenden Trubel, der einst auf den belebten Alleen und auch in den gewundenen Gassen der Altstadt geherrscht hatte, war nur noch ein Totentanz übrig. Warschau wirkte geschwächt und ratlos. Am Ende ihrer ersten Woche in der Stadt ging Thomas mit Weller zu jener glitzernden und kosmopolitischen Kreuzung von Sagoda und Spitalna, die er bei seinem ersten Besuch in Warschau als Sitz der Niederlassung von Milton auserkoren hatte. Jetzt stand das Gebäude verlassen da – es beherbergte keine großen Firmen oder Zeitungsredaktionen mehr, und nur noch das Schild von Chevrolet hing hoch oben unter dem Dach. Die Kulisse einer Show, die vorüber war.
Mit einem Mal begriff er, welche Chancen in dieser Stadt schlummerten: ein unbehauener Betonklotz, der einer formenden Hand bedurfte. Wenn er entschlossen auf die Bühne spränge und mit Lösungen winkte, allen beweisen würde, dass einzig und allein sein Modell geschaffen war, dieser Stadt eine neue Fasson zu geben – dann würde er schon bald zu den einflussreichsten Deutschen in Polen gehören.
Drei junge Damen kamen ihnen entgegen. Alle drei trugen schwarze Wollmäntel und hochhackige Schuhe und zeigten dazwischen etwa zwanzig Zentimeter Seidenstrümpfe. Sie unterschieden sich nur durch ihre Hüte. Die eine trug einen runden Hut, der ihr Haar verdeckte, die zweite ein bläuliches Hütchen, das hoch auf dem Kopf saß und die Locken hervorquellen ließ, während die dritte ein grünliches Modell in Form eines Stahlhelms gewählt hatte.
»Weller, sieh, die schönen Frauen«, rief Thomas und wies mit dem Kinn nach den Hüten. »Das sind Hüte von Paul Poiret, die erkenne ich sofort, sie sind immer sehr ausgefallen, aber nicht übertrieben. Unsere Filiale in Paris hat mit ihm zusammengearbeitet.«
Sie traten zur Seite, um den Damen Platz zu machen, und diese neigten die Köpfe zum Zeichen des Dankes. Ihr Blick aus strahlend grau-silbrigen Augen blieb für einen Moment auf Weller und Thomas ruhen, ehe zwei von ihnen sich beeilten, den Blick zum Himmel zu richten.
»Danken sie nun uns oder Görings Flugzeugen?«, lachte Thomas. Stets überkam ihn Ausgelassenheit angesichts des Kummers anderer. Nicht, weil er dem Wunsch erlegen wäre, sich an ihrem Unglück zu weiden, sondern weil es ihm Erleichterung verschaffte zu sehen, dass Traurigkeit alle treffen konnte. Einen Tag war der andere traurig und man selbst konnte frohlocken, und am nächsten Tag war es genau umgekehrt.
Die jungen Frauen passierten jetzt eine Gruppe von Soldaten, die die vorbeigehenden Männer auf der Straße abfingen, ihnen Schaufeln in die Hände drückten und sie zu einem Gebäude führten, von dem nur noch die Außenmauern standen. Wie Flügel eines Vogels ohne Körper. Zwei junge Herren mit stutzerhaften Schnurrbärten gesellten sich zu den Damen in der Hoffnung, die Soldaten würden sie für deren Begleitung halten. Doch einer der Soldaten brüllte ihnen etwas zu, worauf sie sich mit gespieltem Erstaunen zu ihm umwandten. Der Soldat trieb sie unter Schlägen und Fußtritten zu den anderen Zwangsverpflichteten.
»Krieg ist eine sonderbare Sache«, sagte Thomas. »An einem Ort verwüstet er alles, und zwei Schritte weiter ist nichts von ihm zu sehen.«
»Hör mal, Thomas«, sagte Weller, ließ sich auf eine Bank sinken und bedeutete Thomas, neben ihm Platz zu nehmen. »Du weißt, dass ich dich für einen engen Freund halte, und deshalb bist du der einzige, den ich in einer Sache um Rat bitten kann: Ich kann das Gerede um meine Person nicht ignorieren, du verstehst, die Art und Weise, wie man in Moskau mit mir umgegangen ist …«
»Mir sind alle möglichen Gerüchte zu Ohren gekommen«, gestand Thomas. »Aber ich halte mich fern vom Tratsch, vor allem, wenn er enge Freunde betrifft.«
»Seit vielen Jahren bin
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