Gute Leute: Roman (German Edition)
ich mit dem Osten befasst, vor allem mit der Sowjetunion«, sagte Weller, der ihm nicht zugehört hatte. »Ich habe mein ganzes Leben diesem Land gewidmet. Ich hätte bei diesem Treffen dabei sein müssen.«
»So weit ich verstanden habe, wurden nur ganz wenige eingeladen.«
»Man hat Hilger als Dolmetscher genommen«, schnaubte Weller, und sein vom Cognac gerötetes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. Jetzt sah er wie ein verbitterter alter Mann aus, dessen erschöpfte Seele sich nur noch mit den Kränkungen beschäftigte, die er im Laufe seines Lebens hatte einstecken müssen.
»Kein Wunder«, sagte Thomas. »Es liegt doch nahe, dass Botschafter Schulenburg einem von seinen eigenen Leuten den Vorzug gegeben hat.«
»Niemand im Auswärtigen Amt traut ihm über den Weg, diesem Glatzkopf«, zischte Weller. »Er steht den Sowjets zu nahe.«
»Es wird noch mehr derartige Gelegenheiten geben«, versuchte Thomas ihn zu beruhigen.
Ein Schwarm Krähen stob unter lautem Krächzen aus einem der Bäume auf, öffnete sich vor ihnen wie ein Fächer und flog zu den Dächern der rußgeschwärzten Gebäude. Der Horizont trübte sich im schmutzigen Gelb des nahenden Winters.
Weller wandte ihm den Blick zu und wirkte ermutigt. »Thomas, jetzt sitzen wir wieder im Sattel dank unseres Modells. Viele von denen, die mir in der Vergangenheit die kalte Schulter gezeigt haben, wenden sich jetzt mit Bitten an mich. Aber Stalin werde ich nicht mehr begegnen, und jene Nacht, die ich damals in Moskau versäumt habe, ist unwiederbringlich vorbei.«
Thomas verstand nicht, warum eine Begegnung mit Stalin für Weller derartige Bedeutung hatte. Schließlich würde es keinem gelingen, bei einem offiziellen Treffen einen Blick in die seelischen Abgründe eines solchen Staatsführers zu werfen. Und nur neben ihm zu stehen und sich gemeinsam mit ihm ablichten zu lassen – war Weller denn ein törichter Halbwüchsiger, der einmal einem Filmstar nahe sein wollte?
»Weißt du, mein Freund«, sagte Thomas, »beide sind wir gewöhnliche Sterbliche, die sich von den großen Ereignissen unserer Zeit beeindrucken lassen, aber wir werden nur einen winzigen Abschnitt der Geschichte miterleben. Wenn du die ganze Sache einmal unter diesem Blickwinkel siehst, muntert dich das vielleicht ein wenig auf.«
»Es soll mich aufmuntern zu denken, dass die Nacht, in der das Abkommen mit der Sowjetunion unterzeichnet wurde, kein bedeutsames Ereignis gewesen sei?«, fragte Weller verwundert.
»Mehr oder weniger, ja.« Thomas war überrascht von seiner eigenen Aufrichtigkeit. »Als ich die verschiedenen Modelle des nationalen Menschen mit unseren Leuten in Polen und Frankreich und vor allem mit einem Freund in Rom erstellt habe, entwarfen wir zuerst einmal einen historischen Abriss der jeweiligen Geschichte ihrer Völker. Ich verrate dir ein Geheimnis: All diese historischen Überblicke waren sterbenslangweilig und einander erstaunlich ähnlich. Über jede Epoche herrscht irgendeine gewaltige Macht – ein Prinz, ein König, ein Imperium oder ein großer Eroberer –, was in der Summe zu unzähligen Kriegen und noch mehr Abkommen führt. Jedes Zeitalter hat seine eigene Färbung, aber letzten Endes setzt sich große Historie immer aus denselben Prinzipien zusammen. Das Römische Reich verschwand im fünften Jahrhundert von der Bildfläche, und die ganze Welt glaubte, nun werde eine große Finsternis über sie kommen, doch dann stellte sich heraus, dass dieses gewaltige Imperium nicht mehr als ein Punkt im Verlauf der Geschichte war. Und lange vorher, zu Beginn des zwölften Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung, da zerbrach das Mittelmeerbecken, wurden ganze Kulturen ausgelöscht, versank die Region in Finsternis. Später erst entstand dieses oder jenes Reich, das der Griechen und das der Römer und später das der Polen und Litauer, ein großes Imperium, das auch unsere Vorväter besiegte. Und jetzt …«, er wies mit der Hand zum Horizont von Warschau, »schau sie dir heute an.«
Weller sah ihn an: »Heiselberg, hat das tausendjährige deutsche Reich in deinen Augen denn keinerlei Bedeutung?«
»Es wird kein tausendjähriges Reich geben, das ist keine menschliche Zeitspanne. In tausend Jahren gibt es vielleicht nicht einmal mehr Schnee und ewiges Eis auf der Erde.«
Beim Anblick von Wellers fassungsloser Miene fragte er sich, ob er mit seiner Ehrlichkeit nicht zu weit gegangen war. »Aber natürlich hoffe ich von ganzem Herzen, dass ein Großdeutsches
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