Gute Leute: Roman (German Edition)
Der Distriktgouverneur lieh ihnen zwei Mitarbeiter aus, die alle Anfragen gemäß den Kriterien vorsortieren sollten, die Thomas seinerzeit bei Milton eingeführt hatte: angefangen von »höchste Dringlichkeit« – Anfragen von Kunden, die uns lieb und teuer sind – bis hin zu »Dringlichkeit vierten Grades« – Gesuche von Kunden, an denen kein Interesse besteht. Für das Sekretariat wurden zwei junge volksdeutsche Frauen Ende zwanzig eingestellt. Beide waren in Polen geboren und hatten an der Universität Warschau Rechtswissenschaften studiert. Weller wollte weitere Mitarbeiter rekrutieren, doch seine Bitten um zusätzliche Etatmittel wurden abschlägig beschieden. Thomas war jedoch überzeugt, der Etat würde aufgestockt werden, wenn sie ihre Fähigkeiten erst unter Beweis gestellt hätten.
Mindestens einmal in der Woche pflegten sie ihre Arbeitssitzungen im Salon des Hotel Bristol abzuhalten, in dem etliche hochrangige Gestapoleute logierten. Thomas war bei seinen beiden Besuchen in Warschau in diesem Hotel abgestiegen und hatte sich begeistern lassen von dem Knistern, das in der Luft gelegen hatte, und von der Gier nach Leben und Entdeckungen. Jetzt wimmelte es dort nur so von Deutschen in Uniform, doch Weller und er betrachteten es als ihre Pflicht, sich ebenfalls blicken zu lassen, um hochgestellte Persönlichkeiten zu treffen, Bündnisse zu schmieden, Gerüchte aufzulesen und zu verbreiten, zu verfolgen, wie sich die Position der Institutionen veränderte, mit denen ihr Büro in Verbindung stand, oder – wie Weller zu sagen pflegte – »zu verstehen, wo wir in diesem göttlichen Karneval stehen«.
***
»Jedes Mal, wenn du einer Schar Kinder begegnest, die von einem Schulhof strömt, begreifst du, dass du schon einmal gestorben bist.«
Thomas Heiselberg und Georg Weller kamen an einem Schulgebäude vorüber, dessen vergittertes Hoftor auf dem Asphalt lag. Die Kuppel des Gebäudes ruhte auf purpurfarbenen, von blauen Streifen durchzogenen Glasfenstern, und davor lag der verwaiste, von einer Ziegelmauer umfriedete Hof.
Der kleine Thomas hüpft auf der belebten Straße von einem Schaufenster zum nächsten. Der Vater ruft, er solle nicht zu weit vorlaufen. Aus den Schaufenstern strahlen die Lichter und spiegeln sich in den Augen der Passanten. Automodelle, ein Jackett, ein Brokatsofa, ein Glastisch auf geschnitzten Holzfüßen – von all diesen Wunderdingen trennen den kleinen Thomas noch die Kindheitsrituale und Feiertage, danach Heirat, Studium und harte Arbeit, bis das alles eines Tages ihm gehören würde. Der kleine Thomas steckt seine Zukunft ab: Ruhm oder Tod – oder beides. Am Morgen trifft er seine Freunde und lernt Latein, Mathematik und Geschichte. In den Pausen gründen sie Vereine und entscheiden über Schicksale. Bruno, der Italiener, heult, dass sie ihn nicht aufgenommen haben, für oder gegen Spartakus, »Werdet Mitglied im Schwimmverein Altpreußen«, und alle verehren sie einen Athleten, der die einhundert Meter in kaum mehr als zehn Sekunden zurückgelegt hat. Thomas fühlt sich fremd unter ihnen, kann nicht begreifen, wie sie aus freien Stücken ihre Welt auf banale Vergnügungen reduzieren, da doch nur zwei Schritte entfernt die große Welt winkt. Kinder, begreift ihr nicht, dass wir hier festsitzen? Lasst uns das Schulgebäude zurücklassen, die Marmortafel mit der Inschrift »Freier Spiel- und Turngarten Johann Heinrich Pestalozzi 1746–1827«, lasst uns über die Mauer springen – und wir sind im Zentrum der Welt!
Vater wartet vor der Schule im Feiertagsornat auf ihn. Die Ausgehuniform eines Arbeiters, der die Erbin eines kleinen, rasch schwindenden Vermögens geheiratet hat. Sie kauft ihm Anzüge, in denen er so aussieht, dass sie sich seiner nicht schämen muss. Nach mehr aber auch nicht. Vater schabt den frischen Kitt von den Fensterscheiben im ersten Stock. Der Fensterkitt befleckt seinen Hut, und beide wissen, dass Mutter ihn am Abend schurigeln wird. Sie eilen zur Friedrichstraße. Manchmal träumt Vater gemeinsam mit Thomas, manchmal zieht er Zäune um die Träume des Sohnes, steckt alles ab, was nicht geschehen wird. Träume von dem traurigen Friedrich, dem Eroberer mit dem festen Blick.
Bald darauf hatte Thomas begonnen, sich mit Amerika zu beschäftigen, und Hermanns Vater war zu einem vielbewunderten Menschen geworden. Seine Klassenkameraden und deren Eltern machten sich zwar lustig über Kritzinger senior, doch Thomas konnte nicht verstehen, wie man einen
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