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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nir Baram
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du?«, hörte er Wellers verhaltene Stimme, und als er den Blick hob, war dieser auf dem nächsten Treppenabsatz verschwunden. Thomas hastete ihm nach in den dritten Stock. Auf diesem Flur gab es nur zwei Paar Stiefel, die umgedreht an der Wand lehnten. Thomas unterdrückte einen Schrei: Eine dicke Schicht getrocknetes Blut klebte an den Sohlen. Er spürte etwas wie einen Schlag gegen die Brust und begann zu röcheln und zu keuchen. Die schwarzen Schleier näherten sich wieder. Aber diesmal, zum ersten Mal in seinem Leben, wollte er sich in sie einhüllen, sich in der Dunkelheit verlieren.
    Er murmelte etwas und ließ sich auf die nächste Treppe sinken, umklammerte das wacklige Geländer. In seiner Phantasie sah er Klarissa in der Tür stehen, während er schon im Treppenhaus war, einen Koffer in der Hand, und hörte sie mit verführerischem Lächeln flüstern: »Du kommst hier nicht weg …« Ihr Gesicht war gerötet, sie kam immer näher, das Geländer schwankte und seine Hand kratzte über den Rost. Plötzlich empfand er Schuldgefühle, als hätte er nur Klarissas Gestalt in diesem Moment heraufbeschworen, damit sie ihn aus seiner Schwäche befreite.
    »Möchtest du, dass wir einen Arzt rufen?« Wellers Stimme klang monoton. »Wir können Dr. von Wirsch aus dem ersten Stock kommen lassen.«
    Weller kam die Treppe wieder herunter und blieb zwischen ihm und den Stiefeln stehen, in der einen Hand die Tüte mit dem Brot, die andere Hand ausgestreckt. »Heiselberg«, befahl er, »wir gehen jetzt nach Hause.«
    In Thomas’ Phantasie hasteten Körper und Gesichter vorüber, versunken in der Blutschicht an den Sohlen, das Bild einer schweigenden Kolonne, hustend und keuchend, die im letzten Monat diese Treppenstufen hinabgestiegen war. Die vertriebenen Bewohner des Gebäudes, Universitätsdozenten, ein ehemaliger Abgeordneter des Sejm, eine Journalistin, alle mit Mänteln und Decken beladen, und der junge deutsche Offizier, der sie antrieb und hinterher scherzend und gut aufgelegt zu den neuen Bewohner des Hauses meinte: »Es gibt einen Satz, den muss man wissen auf Polnisch: ›Das ist bloß zum Arbeiten, am Abend kommt er zurück.‹«
    Thomas stolperte und Weller zog ihn weiter. Als sie die oberste Etage erreicht hatten, lehnte Weller ihn gegen die Wand, beeilte sich, die Tür zu seiner Wohnung zu öffnen, schob ihn hinein und setzte ihn in einen Sessel im Wohnzimmer. Der Raum war angenehm warm, es duftete nach Fleisch und Lorbeerblättern. Thomas sah Weller zu dem Holzofen eilen, eine silberne Suppenkelle nehmen und in einem großen Topf rühren.
    »Acht Stunden auf kleiner Flamme, und nun schau dir an, was ein Gedicht«, rief er. »Meine Großmutter hat mir eingeschärft, den Eintopf nur über Holzfeuer zu kochen.«
    Thomas’ Blick blieb an einem Aquarium mit Goldfischen hängen, das vom Licht der Straßenlaterne beschienen wurde. Die Fische sahen aus wie eine Feuer spuckende Schlange. Über seinen Handrücken wand sich ein kleiner roter Kratzer.
    In der Essecke breitete Weller eine Decke auf dem Tisch aus, stellte tiefe Suppenschüsseln auf flache, weiße Teller und arrangierte darum herum silberne Gabeln und Messer sowie einen Suppenlöffel mit goldgefasstem Griff, dazu Weingläser mit dem Bildnis der Heiligen Jungfrau, alles Hinterlassenschaften der vormaligen Bewohner. Weller betrachtete zufrieden den Tisch und kehrte zurück zu seinem Topf. Jetzt kam er mit der gezückten Suppenkelle zu Thomas: »Koste mal, Heiselberg, das musst du probieren, das ist eine Delikatesse.«
    Thomas schlürfte aus der Kelle, die Flüssigkeit verbrannte ihm die Zunge, doch der Geschmack war sämig und gut. Er atmete wieder ruhig und regelmäßig. Dann ging Weller mit dem dampfenden Topf zum Tisch, wobei er sich darüber ausließ, dass man in Deutschland, ja in ganz Europa noch nicht das Potential begriffen habe, das in Wurzelgemüse schlummere. »Mir scheint, diesmal ist mir ein Wundergericht gelungen, wie es hochrangigen Diplomaten wie uns zusteht«, seufzte er genießerisch. »Mein teurer Freund, ich bitte dich herzlich, lerne endlich, dich an einem exzellenten Essen auch zu erfreuen.«
    Thomas stierte auf den Topf und erinnerte sich, dass er hungrig war.
    ***
    Die Arbeitsbelastung war größer, als er sie bei Milton gekannt hatte. Von acht Uhr in der Früh bis in die späten Abendstunden kämpften sie gegen einen ständig höher werdenden Berg von Papier, wohnten langatmigen Besprechungen mit Dutzenden von Teilnehmern bei,

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