Gute Leute: Roman (German Edition)
und ganze Arbeitstage verpufften einfach – ein Phänomen, das Thomas als das »chronische deutsche Zeitdefizit« bezeichnete. Sie versorgten das Auswärtige Amt mit Einschätzungen der Lage, beantworteten Dutzende von Anfragen, die allwöchentlich bei ihnen eingingen. Und zu allem Überfluss hatte von Ribbentrops Stab verlangt, dass ihm jedes Jahr eine aktualisierte Fassung vom Modell des nationalen polnischen Menschen vorgelegt würde, ja, bereits im März 1940 sollte der neue Bericht erscheinen, diesmal sogar in gebundener Form. Von Ribbentrop hatte dabei die Empfehlung ausgesprochen, im Titel der Ausgabe von 1940 den Begriff »national« wegzulassen, und sein Vertrauter Martin Luther ließ wissen, ein Verzicht auf dieses Attribut würde vielen einleuchten.
»1940 streichen wir das Wörtchen ›national‹ aus dem Titel, 1941 das Wörtchen ›polnisch‹ und 1942 ist der ›Mensch‹ dran«, lachte Thomas.
Weller schätzte derartigen Humor nicht. Er war der Ansicht, kultivierte Menschen sollten die Ironie dem Zynismus vorziehen, und schwarzer Humor sei Barbaren und Nihilisten vorbehalten.
Es dauerte nicht lange, und das Modell war, zumindest in den Augen vieler, die ihnen schrieben, von einer prachtvollen wissenschaftlichen Aura umgeben, hinter der eine prophetische Kraft am Werke schien. Thomas und Weller wiesen Fragen nach der Zukunft stets zurück, dennoch schlich sich zuweilen ein orakelhafter Tonfall in ihre Antwortschreiben, den sie durch eine Fülle von Einschränkungen und Vorbehalten abzuschwächen suchten.
In den ersten Monaten kamen zahllose Anfragen, angefangen von solchen aus den Büros der obersten Führungsspitze des Reiches bis hin zu einer von einem kleinen SD-Offizier im Bezirk Lublin. Eine Anfrage, die Thomas besondere Genugtuung verschaffte, traf Anfang des Jahres 1940 aus dem Büro von Dr. Krauch ein, dem Vorsitzenden des Direktoriums der IG-Farben: Das Unternehmen plane, in Zusammenarbeit mit der Reichsregierung ein Werk mit einem Investitionsvolumen von achthundert Millionen Reichsmark in Oberschlesien zu errichten, unweit des Städtchens Oświęcim. Ob der verehrte Vertreter des Auswärtigen Amtes wohl die Güte hätte, die Zusammensetzung der polnischen Bevölkerung in jener Region zu analysieren und eine Strategie vorzuschlagen, wie man die Polen für das angestrebte Ziel einspannen könne? Thomas opferte eine ganze Woche für einen Report, der Krauch beeindrucken sollte, und fügte ein persönliches Anschreiben bei, in dem er Krauch höflich bat, sich auch in allen zukünftigen Belangen mit dem Büro des Modells zu beraten.
Von einer abgelegenen Gestapokommandantur wurde angefragt, ob die Polen, als eine ethnische Gruppe, die viele Generationen lang von fremden Eroberern unterdrückt worden war, sich wohl manipulative Techniken angeeignet hätten, um Mitleid zu erwecken. Es hätten nämlich einige ihrer Männer geklagt, es falle ihnen schwer, die Polen mit der erforderlichen Härte zu behandeln. Weller behauptete, auf eine derart entsetzliche Frage könne das Modell keine Antwort liefern, und Thomas akzeptierte seine Meinung. Weller war es auch, der darauf bestand, eine Anfrage des Auswärtigen Amtes in Berlin zu beantworten, die sich mit den durch die Polen verbreiteten Lügen über angebliche Greueltaten der deutschen Besatzer befasste: Ob es historische Präzedenzfälle für diese »zwanghafte polnische Neigung zur Übertreibung« gebe? Habe sich eine solche auch gegen andere Eroberer gerichtet – die Russen etwa oder die Österreicher und Ungarn? Ließen sich mithin – historisch betrachtet – die Polen, ebenso wie die Juden, als notorische Meister der Verdrehung und Übertreibung charakterisieren?
Andererseits gab es viele, unter ihnen Goebbels, Rosenberg und die Gauleiter des Wartegau, von Danzig und Westpreußen, die das Modell gänzlich ignorierten und ihren Untergebenen untersagten, sich mit Fragen an die Emissäre des Auswärtigen Amtes zu wenden. Krüger, der Höhere SS- und Polizeiführer im Generalgouvernement, hegte sogar eine ausgesprochene Verachtung für das Modell, das der Bezirksgouverneur unverhohlen bewunderte. Hans Frank, der Generalgouverneur im besetzten Polen, brachte dem Modell zumindest begrenzte Wertschätzung entgegen, und Heydrich sah darin lediglich »ein kleines und harmloses Projekt des Auswärtigen Amtes, das auch nach ein bisschen Beteiligung in Polen giert«.
Die Geschwindigkeit, mit der ihr Büro zu einer anerkannten Instanz
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