Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Idee nach, die in den Mittelpunkt stellte, welche Schmerzen ein Mord auslöste. Was sie geschildert hatte, entsprach der Wahrheit. In manchen Fällen riss die Tat eines Mörders ein Loch in eine Familie – Ehepartner, Kinder, Eltern blieben verzweifelt zurück, das ganze Leben erfüllt von Trauer und Wut.
In anderen Fällen hingegen gab es kaum Trauer oder Emotionen irgendwelcher Art. Gurney hatte zu viele solcher Fälle erlebt. Männer, die ein hässliches Leben führten und einen hässlichen Tod starben. Drogenhändler, Zuhälter, Berufsverbrecher, halbwüchsige Vergewaltiger, die mit echten Waffen Videospiele nachspielten. Der menschlichen Zerstörungswut waren keine Grenzen gesetzt. Manchmal hatte er diesen Traum, stets den gleichen, mit einem Bild aus den Konzentrationslagern: Ein Bulldozer, der skelettartige Leichen in einen breiten Graben schob wie Gliederpuppen. Wie Schutt.
Er musterte die junge Frau mit den intensiven dunklen Augen, die noch immer ihre lauwarme Tasse umklammerte. Sie hatte sich nach vorn gebeugt, das Gesicht halb verborgen hinter ihrem glänzenden Haar.
Verstohlen blickte er mit einer Frage in den Augen zu Madeleine.
Sie zuckte leicht die Achseln und deutete ein Lächeln an. Eine sachte Aufforderung zum Handeln.
Er wandte sich wieder Kim zu. »Also gut. Dann kommen wir noch mal auf die Grundfrage zurück. Wie kann ich dir helfen?«
4
Wie ein Sarg
Sie schlug vor, dass Gurney zu ihr in die Wohnung nach Syracuse kam, wo sie das gesamte Projektmaterial aufbewahrte. Damit er alles mit eigenen Augen sah: ihre Korrespondenz mit potenziellen Teilnehmern, die zwei ersten Interviews, die sie geführt und als Teil ihres Angebots vorgelegt hatte, ihre Pläne für die noch ausstehenden Interviews, ihren Vertrag mit Rudy Getz von RAM TV , die allgemeinen Präsentations- und Werbetexte, die sie für die Serie vorbereitete. Dadurch bekomme er ein Gespür für das Ganze und könne ihr sagen, was überzeugend klang und was nicht.
Eigentlich hatte er auf eine Fahrt nach Syracuse genauso wenig Lust wie auf jede andere Aktivität in den letzten Monaten. Doch auf diese Weise konnte er sich wenigstens schnell aller Verpflichtungen gegenüber Connie Clarke entledigen. Hinfahren, umschauen, Stellung nehmen. Auftrag erfüllt. Riesengefallen erwiesen. Danach würde er sich wieder in seiner Höhle verkriechen.
Die Wegbeschreibung zu Kims Adresse, die er sich ausdruckte für den Fall, dass sie getrennt wurden, schätzte die Fahrzeit auf eine Stunde und neunundvierzig Minuten. Doch auf den beiden Interstates, die fast die ganze Strecke umfassten, war kaum Verkehr, und der kleine Miata bewegte sich meistens deutlich über dem Tempolimit.
In besserer Stimmung hätte Gurney den Ausflug vielleicht genossen, der ihn durch eine sanfte Hügellandschaft aus Wäldern und Wiesen, breiten, rauschenden Bächen, Feldern mit frisch für die Frühjahrsaussaat gepflügter schwarzer Erde, malerischen Silos und roten Scheunen führte. Doch in seiner Verfassung verschwamm diese bukolische Kulisse zu einer einzigen feuchten Schlammwüste: eine Mischung aus landwirtschaftlichem Niedergang und schlechtem Wetter.
Der Anblick der Umgebung von Syracuse bestätigte ihn in diesen trostlosen Gedanken. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass die Stadt am Lake Onondaga lag, der den Ruhm für sich beanspruchen konnte, einer der am meisten verschmutzten Seen Amerikas zu sein – ein Gewässer, in dem kein gesunder Mensch baden, fischen oder Boot fahren wollte. Eine Erinnerung aus seiner Kindheit in der Bronx stieg in ihm auf: die Eastchester Bay, deren trübe Fahrrinne ständig durch Frachtkähne und Schlepper aufgewühlt wurde. Die Bucht war eine ölige Verlängerung des Long Island Sound, in dem nichts zu leben schien außer Algen und scheußlichen braunen Krabben – gepanzerten, ungenießbaren, urtümlichen, dahinhuschenden Geschöpfen –, bei deren bloßer Vorstellung er noch immer Gänsehaut bekam.
Er folgte Kims Miata vom Highway in eine Gegend, die einen verwahrlosten Eindruck machte und offenbar keine Bauvorschriften kannte. Er fuhr vorbei an einer wahllosen Abfolge von kleinen Einfamilienhäusern, geräumigen älteren, mittlerweile in mehrere Wohnungen aufgeteilten Anwesen, schäbigen Minimärkten, tristen Gewerbebauten und verlassenen, mit Maschendraht umzäunten Arealen.
Bei einem Eckimbiss – Onondaga Princess of Pizza – bog der Miata in eine kleine Nebenstraße, ehe er vor einem Holzhaus stoppte. Enge Einfahrten trennten
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