Gute Nacht: Thriller (German Edition)
eines nassen Gehsteigs.
Madeleine war bereits aufgestanden. Er streckte sich und rieb sich die Augen, weil er keine Lust hatte, wieder einzuschlafen. Sein letzter, unruhiger Traum hatte sich um einen schwarzen Schirm gedreht. Als dieser sich wie von selbst öffnete, wurde der Stoff zu den Flügeln einer riesigen Fledermaus, die sich wiederum in einen schwarzen Geier verwandelte, während der runde Schirmgriff sich zu einem Hakenschnabel schärfte. Doch als der Geier ihn berühren wollte, verflüchtigte er sich plötzlich, war bloß noch ein kühler Luftzug, der ihn aufgeweckt hatte.
Um Distanz zwischen sich und den Traum zu bringen, schob er sich aus dem Bett. Dann nahm er eine heiße Dusche, die den Kopf klärte und ihn in die Realität zurückholte, rasierte sich, putzte sich die Zähne, zog sich an und trat hinüber in die Küche.
»Du sollst Jack Hardwick anrufen.« Ohne aufzublicken, fügte Madeleine eine Handvoll Rosinen zu einem Gericht, das in einem kleinen Topf auf dem Herd kochte.
»Warum?«
»Er hat vor einer Viertelstunde angerufen und wollte dich sprechen.«
»Hat er gesagt, was er will?«
»Er möchte dich was zu deiner E-Mail fragen.«
»Hm.« Er ging zur Kaffeemaschine und schenkte sich eine Tasse ein. »Ich hab von einem schwarzen Regenschirm geträumt.«
»Ich glaube, es war dringend.«
»Ich ruf ihn gleich an. Aber weißt du noch, wie der Film ausgeht?«
Madeleine goss den Inhalt des Töpfchens in ihre Schüssel und trug sie zum Frühstückstisch. »Kann mich nicht mehr erinnern.«
»Du hast die Szene doch so ausführlich beschrieben. Der Mann, der von Killern verfolgt wird, geht in die Kirche, und später, als er wieder rauskommt, können sie ihn nicht erkennen, weil alle anderen, die die Kirche mit ihm verlassen, auch schwarz gekleidet sind und einen schwarzen Schirm dabeihaben. Und was passiert danach?«
»Ich glaube, er ist entkommen. Weil die Killer nicht alle erschießen konnten.«
»Hm.«
»Stimmt was nicht?«
»Angenommen, sie würden doch alle erschießen.«
»Tun sie aber nicht.«
»Einfach mal angenommen. Angenommen, sie erschießen alle, weil das die einzige Möglichkeit ist, um den einen aus dem Weg zu räumen, hinter dem sie her sind. Und weiter angenommen, die Polizei kommt und findet all diese Menschen, die auf offener Straße erschossen wurden. Was würden die Beamten wohl denken?«
»Was sie denken würden? Keine Ahnung. Vielleicht, dass ein Wahnsinniger Kirchgänger umbringen wollte?«
Gurney nickte. »Genau: Vor allem, wenn die Polizei am gleichen Tag einen Brief bekommen hat, in dem der Mörder erklärt, dass religiöse Menschen der Abschaum der Menschheit sind und dass er sie alle töten will.«
»Moment mal.« Madeleine machte ein skeptisches Gesicht. »Willst du damit andeuten, dass der Gute Hirte all diese Menschen umgebracht hat, weil er nicht wusste, wer von ihnen sein eigentliches Ziel war? Dass er einfach nacheinander Leute in einem bestimmten Auto erschoss, bis er sicher sein konnte, dass er den Richtigen erwischt hatte?«
»Keine Ahnung. Aber ich werde es rausfinden.«
Madeleine schüttelte den Kopf. »Ich begreife einfach nicht, wie …« Sie wurde vom Klingeln des Festnetztelefons auf der Arbeitsplatte unterbrochen. »Geh lieber du hin. Das ist bestimmt du-weißt-schon-wer.«
Er war es tatsächlich. »Bist du endlich raus aus deiner Scheißdusche?«
»Guten Morgen, Jack.«
»Hab deine E-Mail gekriegt – deine Ermittlungsprämisse zusammen mit den Fragen.«
»Und?«
»Willst du darauf hinaus, dass es einen Stilbruch gibt zwischen den Formulierungen im Manifest und dem Handeln des Mörders?«
»So könnte man es ausdrücken.«
»Du schließt also aus der Vorgehensweise des Killers, dass er viel zu praktisch, kühl, ruhig und besonnen ist für die Argumentation aus dem Manifest. Richtig?«
»Ich will darauf hinaus, dass da ein Gegensatz besteht.«
»Okay, interessant. Aber das Problem wird dadurch nur noch größer.«
»Inwiefern?«
»Du sagst, hinter den Morden steckt ein anderes Motiv als das, was im Manifest behauptet wird.«
»Genau.«
»Also wurden die Opfer aus einem anderen Grund ausgewählt – nicht weil sie mit ihren Luxusschlitten geprotzt haben und gierige Schweine waren, die den Tod verdient hatten.«
»Genau.«
»Dann hatte dieses äußerst kühl und sachlich denkende Genie also einen uns unbekannten pragmatischen Grund für die Ermordung all dieser Leute?«
»Exakt.«
»Verstehst du das Problem
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