Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Hintergrund. Wie der Verstand arbeitet.«
»Sie sind also ein Experte dafür, wie man aus Worten, Grammatik und Stil auf das Innere eines Menschen schließen kann?«
»Das ist richtig, ja.«
»Also gut, Dr. Mirkilee. Ich lese Ihnen jetzt Ausschnitte aus einem Dokument vor, das der Gute Hirte vor zehn Jahren an die Medien geschickt hat, und bitte Sie um Ihre Einschätzung zum Gefühlsleben des Autors. Bereit?«
»Selbstverständlich.«
Der Moderator verlas ein langatmiges Elaborat über »das Mittel zur Auslöschung von Gier« und »ihrer Überträger« und die daraus resultierende Befreiung der »Erde von diesem schlimmsten aller Erreger«, und Gurney erkannte in den Worten die Einleitung zur sogenannten Absichtserklärung des Guten Hirten wieder.
Als er zu Ende war, legte der Moderator die Papiere auf den Tisch. »Nun, Dr. Mirkilee – mit was für einem Individuum haben wir es hier zu tun?«
»Laienhaft ausgedrückt? Sehr logisch, aber zugleich sehr emotional.«
»Können Sie das bitte weiter ausführen?«
»Spannungen in der Ausdrucksweise, viele Stile, Standpunkte.«
»Heißt das, es handelt sich um eine multiple Persönlichkeit?«
»Nein, das ist albern – so eine Störung existiert nicht. Das gibt es nur in Romanen und Filmen.«
»Ach. Ich dachte, Sie wollen …«
»Es gibt viele Töne. Erst einer, dann ein anderer, dann der nächste. Äußerst labiler Mann.«
»Verstehe ich das richtig, dass Sie so einen Mann als gefährlich bezeichnen würden?«
»Mit Sicherheit. Immerhin hat er sechs Menschen getötet.«
»Das leuchtet ein. Eine letzte Frage noch. Glauben Sie, er lauert nach wie vor irgendwo da draußen im Schatten?«
Dr. Mirkilee zögerte. »Nun, ich kann nur so viel sagen: Falls er da draußen lauert, würde ich einen hohen Betrag darauf wetten, dass er bestimmt gerade diese Sendung verfolgt. Und überlegt.«
»Überlegt?« Der Moderator stockte, wie um sich über die Tragweite dieser Äußerung klar zu werden. »Also, das ist ein beängstigender Gedanke. Ein Mörder, der nicht nur auf unseren Straßen herumschleicht, sondern überdies vielleicht in diesem Moment überlegt, gegen wen er als Nächstes losschlagen soll.«
Er holte tief Luft, wie um sich zu beruhigen. Dann zoomte die Kamera auf ihn, und er verkündete: »Jetzt ist es an der Zeit für einige wichtige Botschaften …«
Gurney griff nach der Maus und stellte die Lautstärke auf null – eine reflexartige Reaktion auf Werbespots.
Madeleine musterte ihn von der Seite. »Kim ist noch nicht mal aufgetaucht, und ich verliere schon die Geduld mit diesem Zeug.«
»Ich auch«, räumte Gurney ein. »Aber ich muss mindestens Kims Interview mit Ruth Blum abwarten.«
»Ich weiß.« Madeleine setzte ein leises Lächeln auf.
»Was ist?«
»Irgendwie schon komisch, das Ganze. Als du verletzt warst und die Folgen nicht so schnell abgeklungen sind, wie du dir das vielleicht gewünscht hättest, bist du in ein Loch gerutscht. Je tiefer du reingerutscht bist, desto weniger hast du gemacht. Und je weniger du gemacht hast, desto tiefer bist du reingerutscht. Es hat wirklich wehgetan, dich so zu sehen. Das Nichtstun hat an dir gefressen. Und jetzt, mit all diesen verrückten Ereignissen, mit der Gefahr, bist du wieder aufgewacht. Noch vor Kurzem hast du an einem herrlichen Morgen am Frühstückstisch gesessen und ständig mit dem Finger über den Arm gerieben, um rauszufinden, ob sich die taube Stelle verändert hat, ob sie schlimmer geworden ist. Und weißt du was? Das hast du die ganze Woche schon nicht mehr getan.«
Er schwieg, weil ihm keine passende Erwiderung ein-
fiel.
Auf dem Bildschirm flimmerte die letzte Werbung, bevor wieder die Expertenrunde ins Bild kam.
Gurney fuhr die Lautstärke rechtzeitig hoch, um zu hören, dass der Moderator eine Frage an den anderen Gast richtete.
»Dr. Monty Cockrell, freut mich, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Sie sind ein bekannter Experte für alles, was mit Wut zu tun hat. Können Sie uns vielleicht erklären, worum es bei der Mordserie des Guten Hirten eigentlich geht?«
Cockrell legte eine Kunstpause ein, ehe er antwortete. »Einfach ausgedrückt: Krieg. Die Anschläge und das erklärende Manifest waren der Versuch, einen Klassenkampf einzuleiten. Oder das wahnhafte Bestreben, die Erfolgreichen für das Scheitern der Erfolglosen zu bestrafen.«
Danach stürzten sich der Moderator und seine beiden Gäste unbekümmert in eine Diskussion, die volle fünf Minuten dauerte – im Fernsehen
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