Gute Nacht: Thriller (German Edition)
gedrängt, mich wegen der Scheune zu verhören.«
Kyle reagierte aufgebracht. »Hat das nicht dieser Trottel Kramden schon gemacht, als er hier war?«
»Kramden hat mich als Zeugen vernommen. Jetzt wollen sie mich als Verdächtigen verhören.«
Madeleine schüttelte den Kopf.
»Als Verdächtigen ?«, rief Kyle. »Haben die komplett den Verstand verloren?«
»Das ist noch nicht alles«, erklärte Gurney. »Vielleicht will mich die eine oder andere Polizeibehörde zum Tod von Robby Meese befragen, weil ich gestern Abend in Kims Apartment war. Also wird es wohl das Beste sein, wenn ich nicht hier bin. Befragungen im Zuge von Mordermittlungen können sehr lange dauern, und ich will meine Verabredung heute Abend nicht verpassen.«
Ohnmächtig vor Wut stapfte Kyle zum anderen Ende des Zimmers und starrte auf die kalte Asche im Kamin.
Madeleine richtete ihren Blick auf Gurney. »Wohin fährst du?«
»Zu Clinters Hütte.«
»Und heute Abend …?«
»Ich warte. Mal sehen, wer auftaucht.«
»Dass du so ruhig darüber redest, macht mir erst recht Angst.«
»Warum?«
»Du verharmlost das Ganze – dabei steht doch so viel auf dem Spiel.«
»Du weißt, ich mag keine Melodramatik.«
Sie schwiegen, und die Stille wurde nur von fernem Krächzen unterbrochen. Flatternd erhoben sich drei Krähen aus dem stoppeligen Gras der unteren Wiese und beschrieben einen Bogen hinauf zu den Wipfeln der Schierlingstannen am hinteren Ende des Weihers.
Madeleine atmete langsam ein und aus. »Und wenn der Gute Hirte mit einer Waffe reinmarschiert und auf dich schießt?«
»Keine Sorge, das wird nicht passieren.«
»Keine Sorge? Keine Sorge ? Soll das ein Witz sein?«
»Ich wollte sagen, es gibt nicht so viel Grund zur Sorge, wie du vielleicht denkst.«
»Wie kannst du dir da dermaßen sicher sein?«
»Wenn er die Wanzen abhört, weiß er, dass Max und ich uns um Mitternacht in der Hütte verabredet haben. Das Vernünftigste aus seiner Sicht wäre also, dass er zwei Stunden vor uns hinfährt, sich und sein Auto versteckt und an einem strategisch günstigen Ort wartet. Ich denke, diese Aussicht wird ihm gefallen. Er hat viel Erfahrung damit, nachts in entlegenen ländlichen Gegenden auf Leute zu schießen. Das liegt ihm. Er wird sich also beste Chancen bei minimalem Risiko ausrechnen. Und die vertrauten Elemente Dunkelheit und Abgeschiedenheit werden ihn ermutigen – sie erhöhen seinen Wohlfühlfaktor.«
»Nur, wenn er tatsächlich so tickt, wie du glaubst.«
»Er ist ein äußerst rationaler Mensch.«
»Rational?«
»In einem Maß, das jede Empathie ausschließt. Das macht ihn zum Ungeheuer, zum kompletten Soziopathen. Aber es macht ihn auch durchschaubar. Sein Verstand ist eine reine Risiko-Chancen-Rechenmaschine. Und Rechenmaschinen sind – wie ihr Name sagt – berechenbar.«
Madeleine starrte ihn an, als käme er von einem anderen Planeten.
Kyles unsichere Stimme drang von der anderen Seite des Zimmers, wo er immer noch am Kamin stand, zu ihm herüber. »Du willst also einfach als Erster dorthin gehen? Um auf ihn zu warten statt umgekehrt?«
»So was in der Richtung. Eigentlich ganz einfach.«
»Wie sicher bist du, dass das alles so läuft?«
»Sicher genug, um es zu probieren.«
In gewisser Weise stimmte das. Doch eine ehrlichere Antwort hätte wohl berücksichtigt, dass das alles relativ war – ihm blieb praktisch kein Raum mehr zum Atmen, Untätigkeit war keine Option, und ein anderer Befreiungsschlag fiel ihm nicht ein.
Madeleine erhob sich vom Tisch und trug ihre kalt gewordenen Haferflocken und den Toast zur Spüle. Eine Weile starrte sie den Wasserhahn an, ohne ihn zu berühren, die Augen voller Furcht. Dann blickte sie mit einem gequälten Lächeln auf. »Es ist herrlich draußen. Ich mach einen Spaziergang.«
»Musst du heute nicht in die Klinik?«, fragte Gurney.
»Erst um halb elf. Da bleibt noch jede Menge Zeit. Der Morgen ist einfach zu schön, um drinnen herumzuhocken.«
Sie ging hinüber ins Schlafzimmer, und zwei Minuten später kam sie, gehüllt in eine wilde Mischung aus Farben, wieder heraus: lavendelblaue Fleecehose, rosa Nylonjacke und rote Baskenmütze.
»Ich bin unten am Weiher«, verkündete sie. »Wir sehen uns noch, bevor du fährst.«
47
Abschied von einem Engel
Kyle kam herüber und setzte sich zu Gurney an den Tisch. »Meinst du, es geht ihr gut?«
»Klar. Ich meine … Natürlich ist sie … Es geht ihr sicher gut. Draußen zu sein hilft ihr immer. Wandern entspannt.«
Kyle
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