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Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Gute Nacht: Thriller (German Edition)

Titel: Gute Nacht: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Verdon
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verrosteten Aluminiumschlagbaum vorbei. Die Schranke war offen, doch es wirkte wie die Einladung zu etwas Unheilvollem.
    Nach einem guten Kilometer wendete er. Auf halber Strecke zurück zu Clinters Einfahrt erblickte er mitten in einem unkrautüberwucherten Feld eine große verfallene Scheune. Das Dach hing gefährlich durch. An den Seitenwänden fehlten nicht wenige Bretter, und auch im Tor klaffte eine Lücke. Weit und breit war kein Wohnhaus zu sehen – nur ein morsches Fundament, auf dem vielleicht einmal eines gestanden hatte.
    Gurneys Neugier war geweckt. Langsam steuerte er über das Feld auf die Scheune zu und stieg aus. Drinnen war es dunkel, und er musste die Scheinwerfer einschalten, um überhaupt etwas erkennen zu können. Der Boden war aus Beton, und ein langer, offener Durchgang erstreckte sich vom vorderen bis in den hinteren Teil des Gebäudes, der völlig im Schatten lag. Alles war schmutzig, und überall lag verrottendes Heu, doch ansonsten war alles leer.
    Spontan traf er eine Entscheidung. Vorsichtig lenkte er den Wagen in die Scheune – so tief wie nur möglich in den dunkelsten Winkel. Dann nahm er die Mappe mit den Mordwaisen -Unterlagen und den Polizeiberichten, stieg aus und schloss das Auto ab. Es war genau Mittag. Eine lange Wartezeit lag vor ihm, aber er war darauf vorbereitet, sie zu nutzen.
    Zu Fuß wanderte er durch das verwilderte Feld und an der Straße entlang bis zu Clinters Einfahrt. Auf dem schmalen Damm über den Biberteich und den angrenzenden Sumpf fiel Gurney wieder auf, wie gottverdammt verlassen dieser Ort war.
    Wie versprochen war die Eingangstür der Hütte unverschlossen. In dem großen Raum – offenbar dem einzigen Zimmer – roch es abgestanden, als würden die Fenster nur selten geöffnet. Die aus klobigen Holzbalken bestehenden Wände verströmten zusätzlich einen leicht säuerlichen Geruch. Das Mobiliar stammte offenbar aus einem auf rustikalen Stil spezialisierten Laden. Die Lebenswelt eines Mannes. Eines Jägers.
    An einer Seite befanden sich Herd, Spüle und Kühlschrank, an der angrenzenden Wand gab es einen Tisch mit drei Stühlen; und schließlich im hinteren Teil des Raums ein niedriges Einzelbett. Der Boden bestand aus dunkelfleckigen Kieferbohlen. Sofort fielen Gurney die Umrisse einer Art Falltür ins Auge, in die an einer Kante ein Loch gebohrt worden war. Wahrscheinlich eine Art Griff, um die Tür hochzuheben. Aus Neugier probierte es Gurney, doch
sie ließ sich nicht bewegen. Vielleicht war sie irgendwann versiegelt worden, oder Clinter hatte ein verborgenes Schloss eingebaut. Gurney fragte sich, ob er dort unten die seltenen Waffen aufbewahrte, die er ohne behördliche Genehmigung an »Sammler« verkaufte.
    Durch ein Fenster fiel etwas Licht auf den langen Tisch, und man sah auf den Pfad draußen. Gurney ließ sich auf einem von den drei Stühlen nieder und machte sich daran, den dicken Stoß Papiere in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Nachdem er Schriftstücke und ganze Stapel hin und her geschoben hatte, ohne ein Ordnungsprinzip zu entdecken, gab er seine Anstrengungen auf und beschloss, einfach wahllos irgendwo anzufangen.
    Er musste sich innerlich wappnen, als er nach den zehn Jahre alten Autopsiefotos griff und diejenigen heraussuchte, die die Kopfverletzungen zeigten. Wie schon beim ersten Mal packte ihn das Grauen, als er sah, wie die Gesichtszüge der Opfer durch den massiven Einschlag der Kugel zu grotesken Zerrbildern geworden waren. Diese ungeheuerliche Verletzung ihrer menschlichen Würde empörte ihn und bestärkte ihn in dem Vorhaben, den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen – zumindest das, fand er, war man den Opfern schuldig.
    Diese Entschlossenheit fühlte sich gut an. Sie war zweckgerichtet, unkompliziert, belebend. Doch schon bald ebbte das positive Gefühl ab.
    Als er sich in dem kalten, unfreundlichen, unpersönlichen Raum umsah, beschlich ihn eine Ahnung, wie klein Max Clinters Welt in Wirklichkeit war. Natürlich wusste er nichts über sein Leben vor der Begegnung mit dem Guten Hirten, aber sein jetziges wirkte auf ihn deprimierend beschränkt. Diese kleine Holzhütte auf einem Erdhügel mitten in einem Sumpf im Nirgendwo war die Höhle eines Einsiedlers. Clinter war ein zutiefst isolierter Mensch, den nur noch seine Dämonen, seine Fantasien, sein Durst nach Rache antrieben. Er war Ahab: verwundet und besessen. Statt auf den Meeren zu kreuzen, lauerte er in der Wildnis. Ein Ahab mit Schusswaffen statt mit

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