Gute Nacht: Thriller (German Edition)
nickte. »Was soll ich tun?« Es klang nach der größt-
möglichen Frage, die ein junger Mann seinem Vater stellen konnte.
Gurney musste lächeln. »Alles hier im Auge behalten.« Er zögerte. »Was ist eigentlich mit der Arbeit? Und mit dem Studium?«
»E-Mail heißt das Zauberwort.«
»Gut. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich dich in was reingezogen und in Gefahr gebracht habe. Das sollte ein Vater …« Er verstummte und spähte durch die Glastür, um zu sehen, ob die Krähen noch in den Schierlingstannen saßen.
»Du hast mich nicht in Gefahr gebracht, Dad. Und du bist schließlich derjenige, der was dagegen unternimmt.«
»Ja. Also … Ich muss mich fertig machen. Ich möchte mich nicht mit diesem Brandstiftungsquatsch rumschlagen, wo anderes wichtiger ist.«
»Soll ich irgendwas tun?«
»Wie gesagt, behalt alles im Auge. Und du weißt ja …« Gurney deutete Richtung Schlafzimmer.
»Wo die Schrotflinte ist. Ja, kein Problem.«
»Mit ein bisschen Glück sollte bis morgen früh alles geregelt sein.« Mit diesen Worten, die hohler klangen, als ihm lieb war, verließ Gurney den Raum.
Eigentlich blieb nicht viel zu erledigen vor seinem Aufbruch. Er prüfte nach, ob sein Handy aufgeladen war und ob seine Beretta schussbereit im Knöchelhalfter steckte. Er nahm die Informationsmappe, die er von Kim erhalten hatte, aus dem Schreibtisch und fügte die Ausdrucke der Berichte hinzu, die ihm Hardwick gemailt hatte. Bis zur möglichen Begegnung lagen noch viele Stunden vor ihm, die er nutzen wollte, um ein letztes Mal alle ihm bekannten Fakten durchzugehen.
Als er wieder in die Küche trat, stand Kyle beim Tisch, weil er offenbar vor Nervosität nicht stillsitzen konnte.
»Also, Junge. Ich fahr jetzt los.«
»Also dann. Bis später.« Kyle hob die Hand und deutete eine Geste an, die wie eine Mischung aus Winken und Salutieren aussah.
»Bis später.«
Schnell strebte Gurney hinaus zu seinem Auto und griff unterwegs im Vorraum nach seiner Jacke. Ihm war kaum bewusst, dass er den Wiesenweg hinunterfuhr, bis er die Stelle am Weiher erreichte, wo die geschotterte Landstraße begann. In diesem Moment bemerkte er Madeleine.
Neben einer hohen Birke am bergseitigen Ufer des Weihers stand sie da, das Gesicht mit geschlossenen Augen der Sonne entgegengewandt.
Er hielt an und stieg aus, um sich von ihr zu verabschieden und ihr zu sagen, dass er vor dem Morgen wieder zurück sein würde.
Langsam schlug sie die Augen auf und strahlte ihn an. »Ist es nicht grandios?«
»Was?«
»Die Luft.«
»Ach so. Ja, wirklich angenehm. Ich fahr jetzt und wollte …«
Ihr Lächeln brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Es war so erfüllt von … Ja, wovon eigentlich? Nicht von Trauer. Von etwas anderem.
Was es auch sein mochte, es schwang ebenfalls in ihrer Stimme mit. »Bleib einfach kurz stehen«, bat sie, »und fühl die Luft in deinem Gesicht.«
Einen Moment lang – einige Sekunden, vielleicht sogar eine Minute, er wusste es nicht – verharrte er wie gebannt.
»Ist es nicht grandios?« Ganz leise sprach sie die Worte, sodass sie fast wie ein Teil der Luft schienen, die sie beschrieb.
»Ich muss los«, sagte er, »bevor …«
Sie unterbrach ihn. »Ich weiß. Ich weiß, du musst. Pass auf dich auf.« Sie legte ihm die Hand an die Wange. »Ich liebe dich.«
»O Gott.« Er starrte sie an. »Ich habe Angst, Maddie. Rätsel lösen war immer meine Stärke. Ich kann nur hoffen, dass ich auch diesmal richtig liege. Aber mir bleibt keine andere Wahl.«
Sanft strich sie mit den Fingern über seine Lippen. »Du findest bestimmt einen Weg.«
Später erinnerte er sich nicht daran, dass er zurück zum Auto gegangen und wieder eingestiegen war.
Nur ihr Anblick blieb ihm im Gedächtnis, wie sie angestrahlt von der Sonne in ihrer farbenfrohen Kleidung bei der Birke stand, wie sie ihm zuwinkte und mit einer für ihn unergründlichen Wehmut lächelte.
48
Nur einer war wichtig
Die Gegend zwischen Walnut Crossing und Cayuga County wartete mit einer idyllischen Aussicht nach der anderen auf – kleine Farmen, Weinberge und sanft gewellte Maisfelder, durchsetzt mit Laubwäldern. Doch davon nahm Gurney fast nichts wahr. Seine Gedanken richteten sich ausschließlich auf sein Ziel – eine kahle Hütte in einem Sumpfgebiet – und die bevorstehenden Ereignisse.
Als er ankam, war es noch nicht einmal Mittag. Vorsichtshalber bog er nicht sofort auf das Grundstück, fuhr stattdessen langsam an der Einfahrt mit der Skelettwache und dem
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