Gute Nacht: Thriller (German Edition)
kaum eine Minute dauerte, bedankte sich Kim, und sie fuhren los.
»Das ging ja schnell«, sagte Gurney.
»Roberta war von Anfang an von der Idee einer Dokureihe begeistert. Sie hält nicht mit ihren Gefühlen hinter dem Berg – und auch nicht mit ihrer Meinung. Vielleicht mit Ausnahme von Jimi Brewster ist sie die streitbarste Teilnehmerin.«
Roberta Rotker wohnte ein wenig außerhalb des Ortes Peacock in einem Backsteinhaus, das wie eine Festung wirkte. Wuchtig saß es mitten in einer Farmlandschaft. Die grob gemähte Wiese hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Rasen. Es gab keine Bäume, keine Sträucher, keine Pflanzen rund ums Haus. Um das Grundstück lief ein knapp zwei Meter hoher Maschendrahtzaun. Das schwere, robuste Eingangstor bewegte sich auf Rollen, die vom Haus aus elektrisch betätigt wurden.
Nach ihrer Ankunft öffnete sich das Tor. Eine gerade Kiesauffahrt führte zu einem Schotterparkplatz vor einer Backsteingarage für drei Autos. Das Anwesen hatte die Aura einer Dienststelle – wie das sichere Haus einer staatlichen Behörde. Gurney zählte vier Überwachungskameras: zwei an der Vorderseite der Garage und zwei weitere unter dem Dachvorsprung des Hauses.
Die Frau, die ihnen die Tür öffnete, wirkte genauso geschäftsmäßig wie das Gebäude. Sie trug ein kariertes Arbeitshemd und eine dunkle Drillichhose. Die unvorteilhafte Frisur ihres kurzen strohblonden Haares betonte ihr offensichtliches Desinteresse an ihrem Äußeren. Abweisend und unverwandt richtete sich ihr Blick auf Gurney. Sie erinnerte ihn an eine Polizistin – ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch die SIG -Sauer-Pistole in einem Schnellziehhalfter an ihrem Gürtel.
Mit der bei Frauen, die in traditionell männlichen Berufen arbeiten, oft anzutreffenden resoluten Entschlossenheit schüttelte sie Kim die Hand. Nachdem diese Gurney als »Berater« bei dem Projekt vorgestellt hatte, bedachte ihn Roberta Rotker mit einem knappen Nicken. Dann trat sie zurück und winkte sie ins Haus.
Es handelte sich um ein Gebäude im traditionellen Kolonialstil, doch die Halle war völlig leer – ein nackter Durchgang vom Eingang bis zur Hintertür. Links befanden sich zwei Türen und eine Treppe; rechts drei weitere Türen, alle geschlossen. Kein Haus, das seine Geheimnisse offen preisgab.
Als Gurney und Kim durch die erste Tür auf der rechten Seite in ein minimal möbliertes Wohnzimmer geführt wurden, fragte er: »Haben Sie mit Strafverfolgung zu tun?«
Roberta Rotker antwortete erst, nachdem sie die Tür fest hinter sich zugezogen hatte. »Und ob.« Ihre Erwiderung war ungewöhnlich.
»Ich meine, sind Sie bei einer Strafverfolgungsbehörde beschäftigt?«
»Warum ist meine Berufstätigkeit für Sie von Interesse?«
Gurney lächelte mild. »War nur neugierig, ob die Pistole für die Arbeit erforderlich oder eine persönliche Vorliebe ist.«
»Diese Unterscheidung ist überflüssig. Die Antwort lautet: sowohl als auch. Machen Sie es sich bequem.« Sie deutete auf ein Sofa mit harten Polstern, das Gurney an das Möbelstück im Wartezimmer der Klinik erinnerte, in der Madeleine drei Tage die Woche arbeitete. Als er und Kim saßen, fuhr Rotker fort: »Sie ist eine persönliche Vorliebe, weil ich mich damit besser fühle. Und sie ist ebenfalls erforderlich in der Welt, in der wir leben. Ich halte es für die Aufgabe eines verantwortungsvollen Bürgers, sich auf die Realität einzustellen. Ist Ihre Neugier damit befriedigt?«
»Zum Teil.«
Sie starrte ihn an. »Wir befinden uns im Krieg , Detective. Mit Kreaturen, denen unser Sinn für Gut und Böse fehlt. Wenn wir sie nicht erwischen, erwischen sie uns. Das ist die Realität.«
Zum vielleicht hundertsten Mal in seinem Leben ging Gurney durch den Kopf, dass Emotionen ihre eigene Logik erzeugten und dass Zorn unweigerlich zu Gewissheit führte. Sicherlich war es eins der großen Paradoxe der menschlichen Natur, dass man die Dinge dann am klarsten zu sehen glaubte, wenn einen die Leidenschaft in Wahrheit besonders stark verwirrte.
»Sie sind ein Cop«, setzte Rotker hinzu. »Also wissen Sie, wovon ich rede. Wir existieren in einer Welt, in der der Glitter teuer und das Leben billig ist.«
Diese desillusionierende Zusammenfassung führte zu einer längeren Stille, die Kim mit übertriebener Fröhlichkeit durchbrach. »Ach, übrigens. Ich wollte Dave von Ihrem privaten Schießstand erzählen. Vielleicht könnten Sie ihn ihm zeigen. Das würde ihm bestimmt Freude
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