Gute Nacht: Thriller (German Edition)
Treppenstufe, Robby Meeses Behauptung, dass Kim Corazon unter einer gefährlichen psychischen Störung litt, dem bizarren Max Clinter, dem abstoßenden Rudy Getz, dem verfluchten rot gefiederten Pfeil in seinem Garten. Doch mitten in diesem Wirrwarr kehrten seine Gedanken immer wieder zu dieser einen abfälligen Äußerung zurück: Das soll wohl ein Witz sein.
Was für eine Antwort hätte er denn vorgezogen? Natürlich wird er sich mit Ihnen treffen. Wie könnte sich Agent Trout bei Ihrem glänzenden NYPD -Renommee nicht mit Ihnen treffen wollen?
Verdammt! War er wirklich so jämmerlich abhängig von seinem Ruf? Davon, dass seine Position als Stardetective in der Welt der Strafverfolger Beachtung fand? Jede öffentliche Anerkennung dafür war ihm unangenehm gewesen. Aber wenn sie jetzt einfach ausblieb, verkraftete er es nicht. Und das führte gleich zur nächsten beunruhigenden Frage:
Wer war er – ohne diese Position, ohne diesen Ruf?
Ein x-beliebiger Typ, der nicht mehr im Berufsleben stand? Ein x-beliebiger Typ, der nicht mehr wusste, wer er war, weil das Machtgefüge, das ihm seine Identität verliehen hatte, ihn nun ignorierte? Ein x-beliebiger, armseliger Excop auf dem Abstellgleis, der von den Zeiten träumte, als sein Leben noch sinnvoll war, und darauf hoffte, wieder mitmischen zu dürfen?
Meine Güte, was für ein wehleidiges Gejammer!
Jetzt reichte es!
Ich bin ein Detective. Ich war einer, und vielleicht werde ich auf irgendeine Weise auch immer einer sein. Das ist eine Tatsache, die nichts damit zu tun hat, von wem ich mein Gehalt oder meine Befehle bekomme. Ich habe bestimmte Fähigkeiten, die mich zu dem machen, was ich bin. Was zählt, ist die Verwendung dieser Fähigkeiten – nicht die Meinung von Rebecca Holdenfield, Agent Trout oder sonst irgendjemand. Meine Selbstachtung – mein Zugang zum Leben – hängt von meinem eigenen Verhal-
ten ab und nicht von den Reaktionen einer karrieregeilen Psychoprofilerin oder eines FBI -Bürokraten, den ich noch nicht mal kenne.
Er klammerte sich an diese Feststellung, um sich daran aufzurichten, obwohl ihm seine eigene Übertreibung nicht entging. Aber zu viel Überzeugung, da war er sicher, war besser als gar keine. Und er erkannte, dass er wie ein Radfahrer in Bewegung kommen musste, um das Gleichgewicht zu halten. Er musste etwas unternehmen.
Er zog sein Handy heraus, wählte sein E-Mail-Fach und klickte erneut die Vorfallsmeldungen an, die ihm Hardwick gesandt hatte.
Beim Scrollen fiel ihm ein, dass sich die Immobilienmaklerin mit dem Filmstarnamen nur wenige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt in Barkham Dell befunden hatte, als sie zum vierten Opfer des Guten Hirten wurde.
Barkham Dell lag nicht weit von Cooperstown entfernt. In dem Bericht stieß er auf den genauen Ort an der Long Swamp Road mit annotierten Fotos zu der Stelle, wo Sharon Stone das halbe Gesicht weggerissen worden und ihr Wagen vom Asphalt in den Morast geschlittert war.
Kurz entschlossen gab er die Daten in sein GPS ein und lenkte sein Auto durch die Schranke des Otesaga-Parkplatzes – nicht in Erwartung großer Entdeckungen, sondern eher mit dem erwachenden Gefühl, allmählich wieder Grund unter die Füße zu bekommen.
Auch wenn das Geschehen schon mehrere Jahre zurücklag, hatte der erste Besuch an einem Tatort jedes Mal eine Wirkung auf Gurney, die sich schwer beschreiben ließ. Sie anregend zu nennen hätte pervers geklungen, doch auf jeden Fall wurden seine Sinne geschärft. Chemische Reaktionen in seinem Gehirn führten dazu, dass sich ihm alles, was er dort sah, viel genauer einprägte als die Bilder und Ereignisse seines normalen Lebens.
Nicht zum ersten Mal besuchte er den Ort eines vor langer Zeit begangenen Verbrechens. Einmal hatte er einen Serienkiller unter anderem dazu gebracht, auch den Mord an einer Jugendlichen in einem Waldstück bei Orchard Beach in der Bronx zu gestehen – eine Tat, die zu diesem Zeitpunkt bereits zwölf Jahre zurücklag.
Als Gurney jetzt langsam durch die sanfte Linkskurve fuhr, wo sich die Long Swamp Road in Richtung Dead Dog Lake vom Highway entfernte, lief in seinem Kopf der gleiche Vorgang ab wie damals in Orchard Beach: das Wachstum der Bäume zurückrechnen, Schößlinge und kleinere Büsche ganz weglassen.
Seine Rekonstruktionen konnte er anhand der Berichtsfotos kontrollieren. Gebäude waren weder entfernt worden noch hinzugekommen. Das Gleiche galt für Plakatwände oder Telefonmasten. Die Straße hatte 2000 keine
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