Gute Nacht: Thriller (German Edition)

damit andeuten?«
    »Ich benutze ungern solche Begriffe, aber das Ganze macht einen wackligen Eindruck auf mich. Wie ein hohes Gebäude auf einem schwachen Fundament.«
    In einer Art reflexhaftem Widerspruch schüttelte Kim schnell den Kopf. »Wenn du sagst, dass die FBI -Theorie völlig falsch ist, was soll dann …?« Sie verstummte, weil in Gurneys Tasche das Handy klingelte.
    Er nahm es heraus und lächelte, als er aufs Display sah. »Ich habe das Gefühl, genau die gleiche Frage wird mir in ungefähr fünf Sekunden noch einmal gestellt.« Er stand auf und hob das Telefon ans Ohr. »Hallo Rebecca. Danke für den Rückruf.«
    »Die FBI -Einschätzung hat einen grundsätzlichen Fehler?« Ihre Stimme klang schneidend vor Verärgerung. »Was soll diese Behauptung?«
    Gurney entfernte sich vom Tisch und steuerte auf die Terrassentür zu. »Nichts Eindeutiges. Ich hab nur Fragen. Vielleicht gibt es ein Problem, vielleicht auch nicht. Das hängt von den Antworten ab.« Mit dem Rücken zu den anderen blickte er hinaus auf die Hügel und die violetten Reste des Sonnenuntergangs, ohne die Schönheit des Panoramas überhaupt zu registrieren. Er konzentrierte sich nur auf ein Ziel: eine Einladung zu einem Gespräch mit Special Agent Trout.
    »Fragen? Was für Fragen?«
    »Eine ganze Menge. Haben Sie Zeit, mir zuzuhören?«
    »Eigentlich nicht. Aber ich bin neugierig. Also los.«
    »Die erste ist gleich die wichtigste. Hatten Sie je Zweifel, was den Fall betrifft?«
    »Zweifel? Inwiefern?«
    »Insofern, dass vielleicht alles ganz anders sein könnte.«
    »Versteh ich nicht. Können Sie sich genauer ausdrücken?«
    »Sie, das FBI , die Gemeinde der forensischen Psychologie, die Kriminologen, die Soziologen – alle außer Max Clinter – sind sich anscheinend vollkommen einig. So ein bequemer Konsens ist mir bei einer Mordserie, die noch ungeklärt ist, noch nie begegnet.«
    »Bequem?« Ihre Stimme war ätzend wie Salzsäure.
    »Das soll keine Anspielung auf Korruption sein. Mich wundert nur, dass sich alle – eben mit der auffallenden Ausnahme von Max Clinter – einfach mit der vorhandenen Theorie zufriedengeben. Daher meine Frage, ob diese Übereinstimmung wirklich für alle gilt und wie sicher Sie sich persönlich sind.«
    »Hören Sie, David, ich hab nicht den ganzen Abend Zeit. Kommen Sie auf den Punkt und sagen Sie mir, was Ihnen Sorgen macht.«
    Gurney holte tief Luft, um seine Gereiztheit über ihre Gereiztheit abzumildern. »Mir bereitet Sorgen, dass es in diesem Fall viele Elemente gibt, die alle auf eine bestimmte Weise gedeutet werden müssen, um die Gesamttheorie zu stützen. Und ich habe den Eindruck, dass hier die Theorie die Deutung der Elemente bestimmt statt umgekehrt.« Statt dass eine vernünftige, objektive Analyse vorgenommen wird , hätte er beinahe hinzugefügt.
    Holdenfield zögerte. »Genauer bitte.«
    »Alle Daten, Spuren, Fakten werfen bestimmte Fragen auf. Und die Antworten darauf scheinen alle vom Ermittlungsansatz auszugehen, obwohl der Ermittlungsansatz eigentlich erst aus den Antworten auf die Fragen entwickelt werden sollte.«
    »Das nennen Sie genauer?«
    »Okay. Fragen. Warum nur Wagen der Marke Mercedes? Warum war nach sechs Morden Schluss? Warum die Desert Eagle? Warum nicht nur eine Desert Eagle? Warum die Kombination aus kühler, sachlicher Argumentation und leidenschaftlicher religiöser Sprache? Warum die strikte Wiederholung von …«
    Holdenfield unterbrach ihn ungeduldig. »David, all diese Punkte wurden ausführlich erörtert und untersucht – jeder einzelne. Die Antworten sind klar, sie sind sinnvoll, sie bilden ein schlüssiges Gesamtbild. Ich weiß wirklich nicht, worauf Sie hinauswollen.«
    »Heißt das also, dass nie ein konkurrierender Ermittlungsansatz diskutiert wurde?«
    »Dafür gab es nie eine Grundlage. Ich verstehe das Problem nicht.«
    »Können Sie ihn sich vorstellen?«
    »Wen?«
    »Den Guten Hirten.«
    »Ob ich ihn mir vorstellen kann? Soll das eine Frage sein?«
    »Durchaus. Wie lautet Ihre Antwort?«
    »Sie lautet, dass es meiner Meinung nach keine ernste Frage ist.«
    »Hört sich für mich so an, als könnten Sie ihn sich nicht vorstellen. Ich kann es auch nicht. Daher beschleicht mich der Verdacht, dass das Profil Widersprüche beinhaltet, die es nicht zulassen, dass man sich instinktiv ein Bild macht. Natürlich könnte er auch eine Frau sein. Eine Frau mit genug Kraft, eine Desert Eagle zu benutzen. Oder er könnte mehr als einer sein. Aber lassen wir das