Gute Nacht: Thriller (German Edition)
türkisfarben eingeschlagene Schachtel stand neben dem Pfeil. Grinsend griff Kyle danach und legte sie vor seinem Vater auf den Tisch.
»Also …« Leicht verlegen machte sich Gurney ans Auspacken.
»Meine Güte, David«, mahnte Madeleine, »du siehst aus, als müsstest du eine Bombe entschärfen.«
Mit einem nervösen Lachen zog er das Papier weg und öffnete die ebenfalls türkisfarbene Schachtel. Nachdem er mehrere Schichten knisterndes Seidenpapier auseinandergefaltet hatte, stieß er auf einen stattlichen, fünfundzwanzig auf zwanzig Zentimeter großen Silberrahmen. Darin befand sich ein vom Alter schon leicht vergilbter Zeitungsausschnitt. Blinzelnd starrte er ihn an.
»Lies laut vor«, forderte Kyle ihn auf.
»Ich … äh … hab meine Lesebrille nicht hier.«
Madeleine musterte ihn mit einer Mischung aus Neugier und Sorge. Sie drehte das Gas unter der Pfanne herunter und kam herüber. Schnell überflog sie den Ausschnitt.
»Das ist ein Artikel aus der New York Daily News. Die Schlagzeile lautet: ›Frisch beförderter Detective bringt Serienkiller zur Strecke.‹ Dann der Text: ›David Gurney, einer der jüngsten Mordermittler der Stadt, setzte gestern Abend der grausigen Karriere von Charles Lerner ein Ende. Laut Gurneys Vorgesetzten ist die geschickte Verfolgung, Identifizierung und Festnahme Lerners vor allem sein Verdienst. Der »Schlitzer«, wie er auch genannt wird, soll für mindestens siebzehn Morde in den vergangenen zwölf Jahren verantwortlich sein, bei denen Kannibalismus und Verstümmelung im Spiel waren. »Er hat einen völlig neuen Ansatz verfolgt, der schließlich zum Durchbruch führte«, erklärte Lieutenant Scott Barry, ein Sprecher des NYPD . »Jetzt können wir alle wieder ruhiger schlafen.« Zum genauen Hergang wollte sich Barry unter Berufung auf das schwebende Verfahren nicht äußern. Gurney selbst war nicht zu einer Stellungnahme bereit. Der heldenhafte Detective ist »allergisch gegen öffentliche Aufmerksamkeit«, wie ein Kollege aus seiner Abteilung verriet.‹ Das Datum der Zeitung ist der 1. Juni 1987.« Madeleine reichte den eingerahmten Artikel Gurney zurück.
Er hielt ihn vorsichtig und, wie er hoffte, mit einem Ausdruck angemessener Wertschätzung in der Hand. Das Dumme war, dass es ihm keine Freude bereitete, Geschenke zu bekommen – vor allem wenn sie teuer waren. Außerdem stand er nicht gern im Mittelpunkt des Interesses, fand Lob zwiespältig und machte sich nichts aus nostalgischen Gefühlen.
»Danke«, sagte er schließlich. »Was für ein aufmerksames Geschenk.« Stirnrunzelnd betrachtete er die türkisfarbene Schachtel. »Täusche ich mich, oder stammt der Silberrahmen aus einem bestimmten Laden?«
Kyle lächelte stolz. »Bei Tiffany gibt es tolle Sachen.«
»Gott. Also. Mir fehlen die Worte. Danke. Wie um alles in der Welt hast du dir diesen alten Artikel besorgt?«
»Den hatte ich schon ewig, fast seit meiner Geburt. Ein Wunder, dass er nicht schon längst auseinandergefallen ist. Hab ihn früher allen meinen Freunden gezeigt.«
Wie gestern hatte Gurney Mühe, eine plötzliche Gefühlsaufwallung zu unterdrücken. Er räusperte sich laut.
»Gib mal her.« Madeleine nahm ihm den Rahmen ab. »Dafür müssen wir einen schönen Platz finden.«
Kim beobachtete die Szene fasziniert. »Du bist nicht gern der Held, oder?«
Gurneys Emotionen brachen sich in einem rauen Lachen Bahn. »Ich bin kein Held.«
»Aber viele Leute halten dich dafür.«
Er schüttelte den Kopf. »Helden sind fiktional. Sie werden für Geschichten erfunden. Geschichtenerzähler in den Medien schaffen Helden. Und wenn sie sie geschaffen haben, zerstören sie sie wieder.«
Die Bemerkung löste verlegene Stille aus.
»Manchmal sind Helden durchaus real«, widersprach Kyle.
Madeleine war zum anderen Ende des Raums gegangen und stellte das Geschenk auf den Kaminsims. »Ach übrigens«, sagte sie, »auf dem Rahmen ist eine Inschrift eingraviert, die ich vorhin nicht vorgelesen habe: ›Alles Gute zum Geburtstag für den größten Detective der Welt‹.«
Als es laut an der Seitentür klopfte, sprang Gurney sofort auf. »Ich mach schon.« Er hoffte, dass er nicht zu eifrig wirkte. Gefühlsbekundungen waren nicht seine Stärke, doch er wollte auch nicht den Anschein erwecken, als würde er vor den Emotionen anderer Reißaus nehmen.
Der versteinerte Pessimismus in Everett Kramdens Gesicht brachte ihn paradoxerweise weniger aus der Fassung als Kyles kindliche Begeisterung. Der Mann
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