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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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wahrscheinlich an ihr, daß sie sich >anders< als ihre Schulkameradinnen fühlte. Bei ihr wurde jedes Lachen aus einem unterdrückten Schluchzer geboren.
    »Soll ich mit deiner Mutter sprechen?« schlug Fräulein Moll vor. »Auch Dr. Rehbein, euer Hausarzt, findet dich supernervös.«
    »Nein, nein, bitte nicht.« Gaby wehrte erschrocken ab. »Meine Mutter sagt, das liegt an der Entwicklung, weil ich doch so schnell wachse.«
    »Und dein Stiefvater?«
    Gaby sah zur Tafel. Sie hatten in der letzten Stunde die Berechnung des Kreises durchgenommen. Kein Anfang, kein Ende, der gleiche Durchmesser in alle Richtungen, ein Mittelpunkt. ER.
    »Mein Stiefvater tut alles für mich«, sagte Gaby.
    Von Achim war eine Karte gekommen. Ein menschenleerer, weißer Strand mit hohen Palmen und viel blauem Wasser.
    Mit brennenden Augen sah Gaby erst auf die Karte und dann auf die vertraute Schrift.
    Früher hatten sie oft Wortspiele gemacht. Achim schrieb ein Wort, faltete es um, dann schrieb Gaby eins, Verben und Hauptwörter mußten sich abwechseln, doch man wußte nie, was der andere schrieb. Wenn man die Worte vorlas, gab das oft die ulkigsten Sätze.
    Seine Schrift ist noch dieselbe, dachte Gaby und strich mit ihrem Zeigefinger liebkosend übe den runden Kringel beim großen G. Viele liebe Grüße.
    Mutti kam ins Wohnzimmer und schaute über Gabys Schulter auf die Karte. »Wir vermissen ihn, nicht wahr, Mäuschen?« Gaby legte ihre Wange auf Muttis Hand. Am liebsten hätte sie sich an ihr festgeklammert. Langsam zog Mutti ihre Hand unter Gabys Wange fort.
    »Kannst du Mark heute abend versorgen? Ich gehe mit Frau Neumeier von nebenan ins Theater. Ihr Mann ist krank geworden, und da hat sie mich gefragt, ob ich nicht mitkommen möchte. Ewig war ich nicht mehr im Schauspielhaus. Gründgens spielt. Weißt du, er soll ein toller Mephisto sein. Jeder spricht von ihm.«
    »Ja, gerne«, sagte Gaby, drehte Achims Karte um und sah wieder auf den weißen Sandstrand. Gar keine Fußspuren.
    »Hörst du mir zu, Gaby? Es ist ja nur, daß jemand bei Mark bleibt. Weil er manchmal wach wird. Gibst ihm dann halt seinen Schnuller.«
    Plötzlich holte Gaby tief Luft. »Und Pappi? Wo ist Pappi heute abend?«
    »Der hat donnerstags immer Kegeln. Da wird es spät. Das weißt du doch!«
    Das wußte Gaby. Meistens hatte Pappi dann zuviel getrunken, und wenn er spät noch in ihr Zimmer kam, rissen seine Finger in ihrem Fleisch.
    »Bei dir wird es doch nicht so spät, bitte, Mutti?« Sie sah ihre Mutter flehentlich an. »Ich habe morgen früh eine Mathe-Arbeit, die verhaue ich, wenn ich nicht ausgeschlafen bin.«
    Mutti seufzte. »Nein, nein, ich komme schon gleich nach der Vorstellung nach Hause. Du kannst dich ja zu Mark ins Zimmer legen. Dann schläfst du schon, hörst aber, wenn er unruhig wird.«

    Mark war ganz lieb. Mit großen Augen hörte er ihr zu, als sie ihm das Märchen vom Rotkäppchen erzählte. Sie wußte, daß er es noch nicht begriff, aber er schaute wie gebannt auf ihren Mund.
    »Fressen, Wolf, fressen«, klatschte er zum Schluß seine molligen Hände zusammen.
    Zwei Jahre war er jetzt, und sie vergötterte den Kleinen. Sein keckes Stupsnäschen, der stets feuchte, fragend geöffnete Mund, die kleinen Speckfalten in seinem Nacken.
    »Gaby lieb«, murmelte er und saugte dann kräftig an seinem Schnuller.
    »Du auch, Markilein, du bist auch ganz lieb.« Sie streichelte über seine Schläfe, dort, wo eine kleine, blaue Vene pochte. Immer wieder strich sie darüber, und Mark schloß die Augen, sein Saugen wurde weniger intensiv, er schlief.
    Das ging ja klasse, dachte Gaby. Dann kann ich noch Mathe lernen. Mathematik fiel ihr schwerer als die anderen Fächer. Um hier auch auf ein >Gut< zu kommen, mußte sie immer wieder die Regeln pauken. Sie war so vertieft in ihr Schulbuch, daß sie vor Schreck leise aufschrie, als die Wohnzimmertür hinter ihr aufging.
    Pappi stand breit lächelnd in der Tür. In der einen Hand hielt er eine Flasche Wein, in der anderen schwenkte er unternehmungslustig seinen Hut.
    »Hallo, Zuckerpüppchen!«
    »Pappi?!«
    »Da staunst du, was? Aber ich dachte, Mutti ist im Theater, und mein Zuckerpüppchen ist ganz allein zu Hause. Vielleicht hat sie Angst, so ganz alleine, ohne ihren lieben Pappi? Kegeln kann ich immer noch. Heute machen wir zwei uns einen schönen Abend.«
    Er hat getrunken, dachte Gaby.
    Sie fühlte sich von innen taub und leer werden, als würde sich alles in ihr auflösen und in ein dunkles Loch

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