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Gute Nacht Zuckerpüppchen

Gute Nacht Zuckerpüppchen

Titel: Gute Nacht Zuckerpüppchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heide Glade-Hassenmüller
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gezogen. Sie war nicht fähig, sich zu rühren. Pappi warf mit einem gekonnten Schwung seinen Hut auf die Stuhllehne neben ihr, so daß der oberste Knauf ihn auffing.
    Dann ging er zum Schrank und holte zwei Weingläser.
    »Komm, mein Engelchen, jetzt trink erst einmal einen Schluck. Ganz blaß siehst du aus. Als hättest du ein Gespenst gesehen.« Pappi lachte, und mit einem lauten »Plopp« flutschte der Korken aus der Flasche.
    Trinken, dachte Gaby, ja, wenn man trank, war alles nicht so schlimm. Dann würde das, was nun kommen würde, vielleicht auch nicht so schlimm sein.
    Sie wußte, was kommen sollte. Mehr als sonst. Alles.

    Da begann Mark im Nebenzimmer leise zu jammern.
    »Er hat seinen Schnuller verloren.« Gaby sprang auf und lief in Marks Zimmer. Am liebsten hätte sie den Kleinen aus dem Bett gerissen und ihn wie ein Schutzschild vor sich hergetragen.
    Es würde ihr nichts helfen. Pappi wäre nur verärgert, vielleicht sogar böse auf Mark, auf jeden Fall wäre er noch grober mit ihr.
    »Mark, lieber kleiner Mark, hilf mir doch«, flüsterte sie erstickt an seinem Hals und schob ihm den Schnuller wieder zwischen die weiß gelutschten Lippen.
    Mark gab ein zufriedenes Schmatzen von sich und drehte sein Köpfchen zur Seite.
    »Kommst du, Zuckerpüppchen? Alleine schmeckt mir der Wein nicht.«
    »Ja«, rief Gaby leise an der Kinderzimmertür. »Ich muß nur eben zum Klo.«
    Pappi lachte.
    In der obersten Küchenschublade lag Muttis Wirtschaftsgeld. Dreihundert Mark für den Monat. Gaby stopfte es in ihre Manteltasche, riß die große Einkaufstasche vom Haken, schnell ein Brot und ein paar Äpfel hinein, dort standen die Schneestiefel.
    »Kommst du jetzt endlich?«
    Leise zog Gaby die Eingangstür hinter sich ins Schloß. Sie schlich die Treppen im Dunkeln hinunter, und erst auf der Straße fing sie an zu rennen, zu rennen, fort, nur fort.

    Am Anlegesteg Altona kam sie langsam wieder zu Atem. Seitenstiche ließen sie nach Luft schnappen, sie hielt an und lehnte sich an einen Eisenpfeiler, schloß erschöpft die Augen.
    Unter ihr gluckste das Elbwasser.
    Der Anlegesteg war ihr Lieblingplatz. Am hinteren Ende des schwimmenden Pontons trennte sie nur eine rostige Kette von dem dunklen, vertrauten Element unter ihr.
    Komm, komm!
    Eine elektrische Lampe schwankte an einem Holzmast im Wind hin und her.
    Spring, spring!
    Wahrscheinlich kann ich viel zu gut schwimmen. Und dann hätte ich das Geld ja nicht zu nehmen brauchen.
    Was Mutti wohl sagen würde? Wegen des Geldes würde sie jedenfalls ganz schön wütend werden. Aber Pappi hatte bestimmt noch Geld. Er blätterte oft demonstrativ in einem Bündel Scheine.
    Sie würde nicht wieder nach Hause gehen.
    Ich muß weg, vielleicht sucht er mich. Außerdem war es hier am Wasser zu kalt. Sie zog Muttis Schal, den sie sich in der Eile umgeschlungen hatte, höher vor ihren Mund, atmete tief das Parfüm ein, das ihre Mutter benutzte.
    Fort, fort!
    Sie nahm die Einkaufstasche vom Boden hoch und lief den Steg zurück.
    Den Elbwanderweg, überlegte sie, Richtung Cuxhaven. Vielleicht konnte sie sich doch irgendwo auf einem Schiff verstecken. Auf einem Schiff, das zu einer Insel mit weißem Sand und hohen Palmen fuhr...
    Tief vergrub Gaby die Hände in ihren Manteltaschen, die Einkaufstasche schlug im Rhythmus ihrer Schritte gegen ihre Oberschenkel.
    Bald bemerkte sie es nicht mehr. Gehen, gehen, Fuß vor Fuß, Schritt auf Schritt. Ihr ganzer Körper bestand nur noch aus einem Mechanismus: Fort!
    Sie begegnete niemandem. Im Sommer war der Elbwanderweg ein beliebtes Ausflugsziel der häusermüden Hamburger. Schiffe aus allen Ländern, die Fernweh tutend elbauf- oder elbabwärts zogen, viel Grün neben dem dunklen Strömen des Flusses. An einem kalten Februarabend zog es keine Menschenseele auf den idyllischen Weg. Mutti saß im Theater und bewunderte Gründgens Darstellung des »Faust«. Fräulein Moll hatte mit ihnen während der Literaturstunde den Klassiker besprochen. Seine Seele dem Teufel verschreiben! Dann hatte man gar keine Hoffnung mehr. Nicht einmal mehr nach dem Leben. Nie mehr, dachte Gaby und schauderte.
    Einen Augenblick ausruhen. Schwer atmend blieb sie stehen, legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Himmel empor. Der kräftige Ostwind hatte die Wolken vor sich hergetrieben, und jetzt glitzerten unzählige Sterne. Sie konnte einige Sternzeichen erkennen, aber sie bedeuteten nichts. Da wurde von den Menschen ein Zusammenhang geformt, der in Wirklichkeit

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