Guten Abend, Gute Nacht
Haupt-Campus in Boston liegt am Columbia Point, einer Halbinsel, die in den Hafen hinausragt. Die Universität teilt sich das Gelände mit der John F. Kennedy Library und einer riesigen, aber stillgelegten Kläranlage. Aus einiger Entfernung wirken die Gebäude der Uni monolithisch braun, fast unheilverkündend und deprimierend. Aus der Nähe jedoch sieht man, daß die Mauern aus einer unwahrscheinlichen Vielzahl einzelner, rotbrauner Ziegel errichtet wurden und dunkelgrüne Fenster wie Sonnenbrillen aus größerer Höhe herauslugen.
Ich stellte den Wagen in einem Parkhaus ab und stieg in den ersten Stock des Gebäudeteiles direkt am Hafen. Ich hielt mich genau an meine Wegbeschreibung, fand Dr. Lopez’ Büro und klopfte an. Eine Frau öffnete die Tür und lächelte mich an.
»Dr. Lopez?«
»Ja?«
»Mein Name ist John Cuddy. Wirklich sehr nett von Ihnen, daß Sie so kurzfristig Zeit für mich gefunden haben.«
»Bitte, kommen Sie herein.«
Wir setzten uns. Dr. Lopez war in den Fünfzigern und schlank, hatte graues, gelocktes Haar und eine goldgerahmte Brille. »Wie man mir gesagt hat, sind Sie wegen William Daniels hier?«
»Das ist richtig.«
»Könnte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
Ich zeigte ihn ihr.
»Und Sie arbeiten für William?«
»Ich arbeite für seine Mutter, um William zu helfen.«
»Vergangene Woche habe ich mit Mr. Rothenberg telefoniert«, sagte sie.
»Williams Anwalt.«
»Ja. Von Ihnen hat er aber nichts gesagt.«
»Ich habe erst vor zwei Tagen mit meiner Arbeit begonnen.«
»Ich verstehe.«
Als sie schwieg, sagte ich: »Darf ich Ihnen ein paar Fragen über William stellen?«
Sie spielte mit dem Kragen ihrer Bluse. »Wir stehen hier unter einer recht strengen Kontrolle. An der Universität, meine ich. Wissen Sie, was wir hier machen?«
»Ich weiß, daß Sie versuchen, Menschen mit bescheidenen Mitteln eine höhere Ausbildung zu ermöglichen.«
Ihre Miene blieb neutral. »Nett ausgedrückt. Unsere Aufgabe ist es, solche Studenten zu fördern, die andernfalls keine Möglichkeit hätten, einen College-Abschluß zu erreichen. Viele von ihnen benötigen mehr als die klassischen vier Jahre. Viele machen schließlich ihren Abschluß, die meisten jedoch nicht.«
Ich sagte: »Und daher?«
»Und daher sind unsere Möglichkeiten, unsere finanziellen Möglichkeiten, unseren Auftrag zu erfüllen, ernsthaft gefährdet durch... durch...«
»Durch die Legislative, die jetzt einen Ihrer besten und intelligentesten Studenten unter Mordanklage sieht?«
Sie zuckte zurück. »Ja.«
»Das ist bereits passiert.«
»Wie bitte?«
»Er wurde bereits unter Anklage gestellt. Der Schaden ist angerichtet. Ihn wieder vom Haken zu bekommen, mag den Schaden nicht ungeschehen machen, aber wenn er verurteilt wird, kann alles nur noch schlimmer werden.«
Sie schwieg einen Moment. »Durch die Nachrichten und nach dem Gespräch mit Mr. Rothenberg hatte ich den Eindruck, daß nicht mehr viele Zweifel, genaugenommen, gar keine Zweifel daran bestehen, daß William dieses Mädchen umgebracht hat.«
»Wenn dem so ist, kann es wahrscheinlich weder der Universität noch William schaden, wenn Sie mir einige Fragen gestatten. «
Der Anflug eines Lächelns. »Ich habe das Gefühl, Mr. Cuddy, daß Sie ein sehr guter Privatdetektiv sind.«
»Nicht gemessen an dem, was ich bislang weiß. Wann haben Sie William kennengelernt?«
»Als er sich hier immatrikuliert hat, vor etwas mehr als zwei Jahren. Benötigen Sie genaue Daten?«
»Nein. Wie kam es, daß Sie ihn kennengelernt haben?«
»Wenn sich die Studenten einschreiben, erhalten sie Informationen über die verschiedenen, hier angebotenen Dienstleistungen. Wir nennen meine Funktion >Persönliche Beratung<, um den Gang zum >Seelenklempner< zu entschärfen. William kam kurz nach Studienbeginn zu mir.«
»Warum?«
Über diese Frage dachte sie zehn oder fünfzehn Sekunden nach. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen kann.«
»Die Schweigepflicht?«
»Ja.«
»Doktor, angesichts der gegen William vorgebrachten Anklage ist es ziemlich wichtig, daß ich soviel wie möglich über ihn erfahre. Ich habe durchaus Verständnis für Ihre Situation. Ich wünschte, es gäbe auch zwischen einem Privatdetektiv und seinem Klienten ein gesetzlich geschütztes Vertrauensverhältnis. Aber ehrlich gesagt, ich habe nicht besonders viel, mit dem ich Weiterarbeiten kann, und es ist durchaus möglich, daß Sie mir etwas erzählen können, das ihm weiterhilft.«
Dr. Lopez spielte
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