Guten Morgen, Tel Aviv
die Augen geöffnet. Dass Bauarbeiter ihm während seiner Tätigkeit als Bauleiter ihr Herz ausschütteten, Deutschland hätte ja nun schon genug an die Juden gezahlt, und es müsste doch jetzt auch mal vergeben und vergessen angesagt sein – geschenkt. Dass ältere Damen beherzt sagten, sie hätten doch nichts damit zu tun gehabt und nicht gewusst, wohin man all die Juden brachte – vielleicht. Dass sogenannte Studentinnen ihn fragten, ob er auch so ein reicher Jude sei wie all die anderen – na gut. Als ihm aber sein deutscher Freund B. nach dem Ship-to-Gaza-Zwischenfall die Worte »dreckiges israelisches Fascho-Pack« entgegenschleuderte, war es vorbei. »Ihr Deutschen habt euch überhaupt nicht geändert. Ihr seid genauso voll von Vorurteilen und Abneigung gegenüber Juden wie eh und je«, warf er mir kurz danach an den Kopf.
Gestern überlegte ich das erste Mal, ob er recht hatte. In Jerusalem regnete es. Trotzdem war die Stadt voller Touristen, mehrheitlich deutscher Herkunft. Überall plapperte es in meiner Muttersprache. Kurz vor dem Jaffator bot ein fliegender Händler Regenschirme zum Verkauf an. Für stolze zehn Euro. Aber immerhin regnete es ja auch. Das hielt die Deutsche-Kleinstadt-Seele hinter mir nicht davon ab, keifend ihrer Freundin zuzuschnarren: »Zehn Euro. Pah. Die spinnen ja wohl. Typisch der geldgierige Jud.« Dass der Verkäufer ein Araber war, spielte schon keine Rolle mehr. Ich erstarrte für einige Sekunden. Als ich mich umdrehte, war das antisemitische Miststück verschwunden. Ich konnte ihr nicht einmal die Meinung geigen. Oder hatte es sie nie gegeben? War ich einer Halluzination meiner Angst vor dem eigenen Volk auf den Leim gegangen?
Leider muss ich sagen, dass ich vieles anders sehe als die Durchschnittsdeutschen, die einfach nur vergessen und gut sein lassen wollen. In einem tollen Film hieß es einmal: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen.« Das ist gut möglich. Der jüdische Publizist Henryk M. Broder spricht immer wieder davon, wie sehr die Deutschen ihre toten Juden ehren und lieben, wie wenig sie sich jedoch um die Lebenden kümmern. Richtig. Es ist doch nicht normal, dass sämtliche jüdischen Einrichtungen in Deutschland mit Maschinengewehren beschützt werden. Und dass dieser Schutz vornehmlich Angriffen von Islamisten gilt, ist nur ein schwacher Trost. Die meisten meiner Generation wollen »damit« nichts mehr zu tun haben. Sie sagen, schon ihre Eltern hätten nichts mehr damit zu tun gehabt. Trotzdem haben sie sich intensiv mit dem Holocaust auseinandergesetzt, darauf legen sie Wert. Sie sagen, dass deswegen so etwas nicht mehr passieren würde. Stattdessen demonstrieren sie für Palästinenser und gegen das Apartheitsregime in Israel. Gegen die Juden, die es doch so viel besser wissen müssten. Ausgerechnet die.
Gleichzeitig fürchten sie sich vor den Wörtern Konzentrationslager, Holocaust und Juden. Die derben Massenmord-Witze der Israelis machen sie nervös. Denn die erinnern sie an ihre eigene Verletzlichkeit. An die eigene Unzulänglichkeit, an den temporären Untergang der eigenen Hochkultur. Mir sagte mal jemand, wir Deutschen können nicht gut mit Kritik umgehen. Wir pressen dann die Lippen aufeinander und schlucken schwer. Dass Organisationen (auch in Deutschland) und Länder die Schoah immer wieder gegen uns benutzen, hilft dabei auch nicht.
Die Tausende von russischen Juden, die in den letzten Jahren von Deutschland aufgenommen wurden, sind vielerorts nicht besonders beliebt. Bei den eigenen Religionsgenossen nicht, weil sie angeblich vom Judentum keine Ahnung haben. Bei den Deutschen nicht, weil man angeblich nicht versteht, was die in Deutschland sollen, schließlich habe man doch schon genug gebüßt, genug gezahlt. Ich sage: Gut, dass sie da sind. Je mehr, desto besser. Nur sie können aus dem Holocaust von Hitler den Golocaust von dem schrulligen, verstorbenen Herrn Gitler machen.
Gegen jede Regel
Israelis mögen keine Regeln. Im Gegenteil, wenn man ihnen sagt, sie dürfen das nicht, machen sie es erst recht. Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit Israelis gegen jede Regel handeln. Auch ich fühle, wie der rebellische Teil in mir in diesem Land wächst und wächst. Als ich im Sommer mit meinen Eltern auf Rügen das Badehaus im Ort Lauterbach besuchte, fuhren wir mit dem Auto nicht direkt vor das Gebäude. Denn vor der Einfahrt stand ein Schild, das eben dies untersagte. Ich wetterte auf dem Rücksitz vor mich
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