Guten Morgen, Tel Aviv
Restaurants, in die ich nicht gehen möchte. Aber wenn das Essen nun einmal 50 Prozent billiger ist … Und im Restaurant selbst gibt es dann noch einmal Maximal-Konsum-Menü-Angebote. Vorspeise, Hauptgericht und Dessert für 60 Schekel. Dabei will ich nur ein Schnitzel!
Leider ist man auch im Ausland nicht mehr vor der Dealim-Wut der Israelis sicher. Als traumatisierend könnte ich hier von einem Ausflug zu C&A mit meiner Schwiegermutter in spe erzählen. Könnte. Denn ich muss jetzt leider weg. Auf meinem Schreibtisch türmen sich verschiedene Voucher für tolle Angebote, die alle heute ablaufen. Ja, auch ich bin mittlerweile im Konsumrausch. Als ehemaliges DDR -Kind nach Israel gekommen, um Amerikaner zu werden. Angekommen im Land der unbegrenzten Sonderangebote. Vielleicht sollte ich mal im Kibbuz Urlaub machen.
Teilen und Heilen
Neulich trug Freundin M., eine bekannte israelische Prominente, eine tolle 70er-Jahre-Lederjacke. Als ich sie fragte, wo sie die denn ergattert habe, antwortete sie mit größter Selbstverständlichkeit: »Ach die, die hab ich mal auf der Straße gefunden.« Ähnliches passierte mir kurze Zeit später mit Freundin L., einer Lehrerin, deren halbe Wohnungseinrichtung von der Straße zusammengesammelt ist. In Tel Aviv liegen oft Klamottenberge auf dem Gehweg, neben Mülltonnen oder auf Parkbänken. Erst heute entdeckte ich vor unserem Haus ein paar schwarze Schuhe. Sie standen ganz fein säuberlich da, als hätte jemand sie nur kurz abgestellt. Ein paar Stunden später hatten sie bereits ein neues Zuhause gefunden.
Israelis schmeißen ihre alten Sachen nicht einfach weg. Sie teilen sie lieber. Anfangs dachte ich noch: Wer sollte denn schon ein Interesse an all diesen alten, gebrauchten Klamotten/Sesseln/Schuhen/Sofas etc. haben? Wer wühlt in Klamottenbergen von fremden Menschen? Und wer zieht sich den Schuh von seinem Nachbarn an? Nachdem ich das erste völlig normal aussehende Pärchen im Textilhaufen vor unserem Haus wühlen gesehen hatte, revidierte ich meine Frage: Warum machen Israelis das? Finden sie das nicht eklig?
Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Ich bin selbst großer Secondhandfan und kaufe Kleidung und sogar auch mal Schuhe gerne auf dem Flohmarkt oder in Vintage-Läden. Da kann ich mich aber zumindest der Illusion hingeben, jemand hätte die Sachen gereinigt. Und wenigstens muss ich sie nicht vom Boden auflesen. Denn etwas von der Straße aufzusammeln geht mir zu weit. Und wenn ich persönlich Dinge nicht mehr brauche (was selten vorkommt, da ich das Gefühl habe, immer alles noch mal brauchen zu können, selbst alte Kinokarten), habe ich es bisher entweder weggeschmissen oder in die Rote-Kreuz-Tonne geworfen. Solche Tonnen gibt es hier nicht. Weswegen ich anfangs annahm, die Straßengegenstände würden vor allem von ärmeren Menschen eingesammelt. Aber dann kamen, wie gesagt, das 08/15-Pärchen und meine Promi-Freunde.
Es ist aber nicht nur so, dass Leute ihr Zeug einfach auf die Straße stellen. Jeden Morgen pünktlich um acht Uhr fährt außerdem ein alter Mann mit einem nicht identifizierbaren Fahruntersatz (eine Mischung aus Golfmobil und ausgebranntem Lieferwagen) durch unsere Straßen und schreit in sein Megafon auf Deutsch (oder wohl eher Jiddisch) »alte Sachen«, »alte Sachen«. Vor einigen Jahren sind die Lumpensammler noch mit Pferdekutschen durch die Stadt getrabt, aber das ist jetzt aus Tierschutzgründen verboten. Der Lumpensammler nimmt alles mit, was er kriegen kann, und ich frage mich jedes Mal, was er mit all den kaputten Dingen machen will. Aber dann wiederum fährt er mit seinem Golfmobil durch die Gegend, das er wahrscheinlich direkt nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg ergattert hat und für das er anscheinend heute noch Verwendung findet.
Als ich meine modebewusste israelische Designer-Freundin S., die natürlich ebenfalls diverse Straßenfunde wie Schuhe und Bilderrahmen verzeichnen kann, neulich nach einer Erklärung für dieses seltsame Verhalten fragte, antwortete sie: »Das ist wegen der Schoah.« Während ich noch erstaunt und verwundert die Augenbrauen hochzog, erklärte sie eifrig, wie der Massenmord mit dem unorganisierten Straßenflohmarkt zusammenhängt:
»Wir nehmen immer, was wir kriegen können. Man weiß nicht, was morgen ist und wann wir das nächste Mal die Chance haben, etwas zu bekommen. Das ist ein Holocaustkomplex. Sozusagen unser Überlebensinstinkt. Du siehst was Kostenloses? Dann nimmst du es erst einmal
Weitere Kostenlose Bücher