Guten Morgen, Tel Aviv
mit. Kann man später immer noch gucken, ob man es braucht. Die Leute haben im Holocaust alles verloren. Sie haben keine Keller voller verstaubter Sachen. Alle sind mit gerade mal einem Koffer ins Land gekommen. Die alten Sachen geben uns das Gefühl, immerhin ein Stück Historie zu Hause zu haben. Auch wenn es die eines anderen ist. Und weil wir wissen, dass die anderen auch so denken, stellen wir Dinge, die wir nicht mehr brauchen, auf die Straße. Irgendjemand wird schon etwas damit anfangen können.«
Das Mitnehmen von alten Sachen beruhige die Menschen. Wenn man das Ganze so betrachtet, könnte das Straßenphänomen Teil des Heilungsprozesses post-Schoah sein. Sozusagen Teilen und Heilen der Nachkriegsgenerationen. Indem alle ihre Sachen auf die Straße stellen, beruhigen sie einander, dass immer genug da sein wird, und sie füllen Lücken, die durch fehlende Erinnerungsstücke entstanden sind.
Wenn man es so betrachtet, möchte ich natürlich nicht außen vor stehen. Deswegen haben wir jetzt einen neuen Lehnsessel. Den schicken blauen Fauteuil entdeckte ich in der Mendelestraße, als wir vom Strand nach Hause liefen. Nach ausgiebiger Begutachtung und großen Überwindungsschwierigkeiten schleppten mein wunderbarer Lebensgefährte und ich das schwere Polsterding schließlich in Badeklamotten auf unseren Schultern nach Hause. Gemeinsam reinigten wir den Sessel gewissenhaft stundenlang, schrubbten und putzten, bis es wehtat. Die Deutsche und der Israeli. Es hatte wirklich etwas Heilendes.
Der Tag, an dem ich nicht Angela Merkel traf
Die Kanzlerin ist in Jerusalem. Das kann ich nicht ändern. Ich sitze in Tel Aviv und ignoriere den hohen Gast.
In Israel wird man geradezu von offiziellen Besuchen überschüttet. In dem knapp einen Jahr, das ich jetzt hier lebe, waren unter anderem Präsident Wulf, Außenminister Westerwelle (zweimal!), Brandenburgs Ministerpräsident Platzeck, Sachsens Oberhaupt Tillich, Oppositionspolitiker Çem Özdemir da. Nicht zu vergessen die beiden Linken-Abgeordneten Groth und Höger, die uns auf dem Seeweg beehrten. Und jetzt also Frau Merkel. Im Schlepptau das halbe Kabinett: von Bundesinnenminister de Maizière und Wirtschaftsminister Brüderle über Umweltminister Röttgen und Familienministerin Schröder bis zu Verkehrsminister Ramsauer und Bildungsministerin Schavan. Ach ja – und Dirk Niebel, was auch immer der macht.
Ich finde das ziemlich viel offiziellen Besuch für ein Jahr in einem so kleinen Land. Wenn man in Israel lebt, fühlt man sich als Deutscher schnell bedeutend. Man hat das Gefühl, hier laufen die Fäden der Welt zusammen. Oder zumindest dreht sie sich um einen. Man kann sich als Journalist einmal sicher sein, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu weilen. Immer. Außerdem kann man die deutsche Prominenz öfter sehen als in der Heimat. All der wichtige Staatsbesuch scheint aber auch den Israelis zu Kopfe zu steigen. Oder wie sonst kann man sich erklären, dass ein so kleines Volk so viel Persönlichkeit hat? Oder dass jeder Einzelne hier glaubt, er sei der Wichtigste? Und das, was er will, am wichtigsten?
Ein Beispiel: Vor einigen Tagen im Supermarkt. Der Verkäufer spricht mit einem Lieferanten. Sie sehen aus, als würden sie über elementare, hyperwichtige Supermarktangelegenheiten diskutieren. Ich möchte gerne etwas fragen, habe aber als Kind gelernt, dass man Erwachsene nicht einfach so im Gespräch unterbricht (auch dann nicht, wenn man selbst schon erwachsen ist).
Die Supermarktberater schwatzen weiter. Gerade als ich mich entschließe, mit einem freundlichen »Entschuldigen Sie kurz« ihre Unterhaltung vorsichtig zu unterbrechen, kommt ein glatzköpfiger Israeli von hinten angedrängelt. Ohne weitere Zeit zu verschwenden, grätscht er in die Debatte und stellt seine Frage. Warum auch nicht? Schließlich, so ist dieser Vertreter des israelischen Volkes sich sicher, ist das, was er will, wichtiger als alles andere auf dieser Welt. Dass die israelische Politik ähnlich funktioniert, brauche ich wohl gar nicht zu erwähnen. Und warum das Ganze? Alles wegen dieser ständigen Staatsbesuche.
Sie sind wohl auch daran schuld, dass Israel so ein unfassbar politisiertes Land ist. Nicht nur, dass 99 Prozent der Nachrichten, die man in Deutschland über den Nahoststaat liest, politisch gefärbt sind. Auch die Israelis selbst sind politisch »joter mi dei«, wie man hier sagt. Zu viel. Mein halb japanischer Freund T. erzählte beim Besuch in Israel neulich, dass
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