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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Oberkörper noch eine Weile wand, bevor er die Wahrheit rausließ? Also vorsichtshalber sich dem Lachen anschließen, etwas zurückhaltender natürlich, um dann zum ernsten Gesichtsausdruck eines Delinquenten zu wechseln, der um seine Verurteilung weiß, aber nicht um die Höhe der Bestrafung. Wer erst seit ein paar Monaten sechzig war, hatte keine Erfahrung, wie eine möglicherweise an ihm interessierte Frau mit dieser Tatsache umgehen könnte. Obendrein passierte das Ganze zu einer Zeit, in der sich mein Liebesleben auf seltene, mir spürbar caritativ gewährte Gelegenheiten beschränkte – eine nicht unbedingt begeisternde, aber auch nicht ganz freudlose Begleiterscheinung des Alters.
     
    Sechzig also der Mann, gut – aber hätte so einer den Zufall gleich zweimal an einem Abend herausfordern sollen? Die Kurzversionen des Lebenslaufs zweimal abklappern, das Woher und Wohin, womöglich zum zweiten Mal binnen weniger Stunden die prägende Geschichte, das Drama von Papa, Mama, Kind erwähnen, andeuten, erzählen? Oder schon die fundiertere Version für Fortgeschrittene auspacken – ja, sorry, hier läge als Folgelast aus frühester Kindheit leider eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit paranoider Komponente vor? Gott sei Dank ging es auch anders. Ella hatte ihre Todespoesie nach und nach abgeschwächt, später die Stadt Graz erwähnt, ihren mir gut bekannten Studienort, den zunächst ich mit eindrücklichen Impressionen beschwärmte, den wir bald zusammen beschwärmten. Und irgendwann – nebeneinandersitzend – berührten wir uns, indem wir die Köpfe wie siamesisch angewachsen aneinandergedrückt beließen, vorsichtig vorantastend die Formen der Schädel erkundeten, die Ausbuchtungen, Einbuchtungen, Dellen und Kuhlen abfuhren, bis wir nach längerem, fast obszönem Suchakt die optimale Einpassung gefunden hatten – das war weit gegangen, ein Hauch von Innigkeit, ein Glücksfunken zwischen zwei Schädelwänden. Wer würde vor solchen Momenten warnen? Wer das Schweigen durchbrechen und ganz fair von seinem hochentwickelten und nur unter größten Komplikationen liebeskompatibel hinzubiegenden Individualismus anfangen? Wer würde sagen, ich bin ein Gentleman, und doch nur hin und wieder so, wie ich immer sein sollte? Wer darauf verweisen, daß von Frauen gestellte Ansprüche ihn hilflos und krank machen: An inability, you know, to connect seriously with women – but only briefly, intermittently, you understand? Wer vorbereitend flüstern, ein großes Faible für Anfänge zu haben und ein viel geringeres für spätere Entwicklungsstufen? Lange Minuten hatten wir die Köpfe aneinandergepreßt, als würden unsere Gedanken osmotisch durch die Knochenmasse hin- und herfließen können. Über mein hoffnungsvolles Schweigen legten sich einige Seufzer Ellas, extrem leise, eigentlich nur für Hundeohren hörbar, eine akkustische Anfütterung. Und auch der hüftenwiegende Gang schwang um zwei, drei Breitengrade mehr als nötig aus für eine Frau, die kurz mal zur Toilette mußte: Kuck genau hin, Junge, sagte dieser hinterhältige Gang, jetzt geht sie zum ersten Mal für dich.
     
    Sich selbst fand Ella einfach jung, ohne genauere Angaben. Jung nicht in Relation zu mir, der ich sie auf Anfang, Mitte Vierzig schätzte – mit einer rosig schimmernden Haut, rötlichen Haaren, lockig, am Unterkiefer zwei die Ideallinie verlassende Beutelchen schlafferen Gewebes, die manchmal sichtbar auffielen, manchmal nicht, je nach Tagesform vielleicht. Jung also innerhalb des gesamten Altersspektrums? Jung eben, sagte sie, verstehst du, jung. Gut, hatte ich gesagt, lassen wir das zunächst mal so stehen. Mir war natürlich klar, daß es für eine Frau wie sie viele Möglichkeiten gab, auch in bezug auf das Alter in Frage kommender Männer – sie könnte sich um fünfzehn Jahre runter lieben oder fünfzehn Jahre rauf, sollte sie innerhalb ihrer Generation nicht zurechtkommen. Sie könnte auf die Beziehung zu einem Dreißigjährigen eine zu einem Sechzigjährigen folgen lassen, oder umgekehrt, oder auch parallel. Schon lehrreich, diese Zahlenspiele, die wie nebenbei den Hang zum Extrem, zur Freiheit zeigen, und dennoch würde jeder die genauen Daten lächelnd übergehen, wenn sie anfangs zur Sprache kämen.
     
    Tatsächlich brachte Ella einen Jungen mit in die Beziehung, einen Mittzwanziger, den ich mir ihrer Beschreibung zufolge als blonden Engel vorzustellen hätte: So rein, so unschuldig hat er plötzlich vor mir gestanden, ein

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