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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auch Weimar mit dem nahe gelegenen Gelände des KZ Buchenwald besuchen wollten …
     
    Allein der Grund dieser Reise sorgte zumindest bei mir für ein merkwürdiges, hohles Angespanntsein. Ich wußte einfach nicht, welche Empfindungen angemessen sein könnten für jemanden, der zum ersten Mal im Leben den Ort seiner Geburt wieder besucht, der versucht, den Ausgangspunkt seines persönlichen Mysteriums zu finden. Dort hinfahren mit der bisherigen, an Gleichgültigkeit grenzenden, aber ehrlichen Gelassenheit in dieser Frage? Mit der zynischen Haltung des nochmaligen Auskostens eines absurden, mit der großen Historie verbandelten Schicksals? Oder doch mit einer besonders starken Rührung – jetzt, sechs Jahrzehnte nach dem freudigen Ereignis? Für den Fall, so ungeheuer verspätet wieder an seinem Geburtsort zu erscheinen, gab es kein passendes Gefühl. Erfurt heißt der Ort, in dem ich geboren wurde, Erfurt in Thüringen. Abgesehen von ein paar Postkarten und allgemeinen Informationen war mir diese Stadt bisher unbekannt geblieben. Falls die mir in der Kindheit erzählte, seither ungenau im Gedächtnis gebliebene Frühestgeschichte meines Lebens zutraf, hatte ich dort die ersten Monate nur im Kinderwagen gelegen und den Boden dieser Stadt folglich noch nie betreten.
     
    Immerhin dein Geburtsort, hatte Ella ohne Verständnis für mein so langes Desinteresse gesagt – ein eingezäunter, ewig hinter einem eisernen Vorhang versteckter Ort, den ich noch nie vermißt habe, war meine Antwort.
     
    Nach dem Mauerfall hatte es mehrere Gelegenheiten gegeben, dort hinzufahren. Nicht unbedingt aus freien Stücken – einmal wollte eine Zeitschrift für eine von mir selbst angeregte special-interest-Reportage sogar die Reise bezahlen und war, nach der trotz Zusage von mir monatelang hinausgezögerten Realisierung, pleite gegangen. Einige Jahre später wollte ein Rundfunksender einen Text zum Thema Erfurt haben – Schreiben Sie ruhig zwei, drei Seiten, sagte der Redakteur, auch wenn Sie die Stadt gar nicht kennen.
     
    In der Summe aneinandergereiht ergäbe das von mir geschriebene Wort »Erfurt« bisher wahrscheinlich an die zwanzig Seiten. Ohne klare Vorstellung von seiner Bedeutung, ohne irgendein Bild vor Augen zu haben, malte ich es ein Leben lang hin, füllte es in dafür vorgesehene Freiräume, tippte es ein – Erfurt, Erfurt, Erfurt. Wie eine Selbstverständlichkeit hatte ich den Stadtnamen in Büros und Banken genannt, mein »Erfurt« in Bars und Betten geschnurrt, das Wort auf unzählige Formulare, Anträge und Meldebögen gesetzt, in Klassenbücher, Wehrdienstbücher, Sparbücher – der Geburtsort als Füllwort, das unbedingt gebraucht wurde, das zu mir gehörte wie ein Kennzeichen. Allein das Jahr 1974 müßte eine ganze Seite notierter Erfurts erbringen – bei zwei Umzügen, drei Krediten, vier Autounfällen mit viel Schreibkram, plus einer papierfressenden Firmengründung. Um Kölner oder Bremer Beamten Orientierungshilfe zu geben, vielleicht gar im unbewußt schmeichlerischen Herbeizitieren der bekannten Bratwurst- oder Mettsorte, fügte ich stets ein für die Größe der Stadt eher ungebührliches –Thüringen oder Schrägstrich Th. hinzu. Als Schulkind hatte ich das mit noch mehr Genauigkeit getan. Bis es mir mit elf oder zwölf Jahren pedantisch und unsinnig vorkam, beantwortete ich entsprechende Lehrerfragen nämlich in voller Länge mit Erfurt-Möbisburg. Darunter stellte ich mir allerdings so gut wie gar nichts vor. Wie also, fragte ich mich wenige Kilometer vor Erreichen des Ortes, könnte dieses Möbisburg denn aussehen?
     
    Ella am Steuer, ebenfalls erstmals in der Gegend, war der festen Überzeugung, daß unsere Fahrt ohne ihr Drängen gar nicht stattgefunden hätte. Sie gehörte zu jenen Frauen, die familiengeschichtlich, insbesondere familienfrühgeschichtlich problematische Ereignisse ihrer Liebespartner seelenkundlich aufarbeiten wollen – selbst wenn Klärungen oder gar Aufarbeitungen bei diesen Männern weder dringend erwünscht noch wegen der bereits weit vorangeschrittenen Biographie überhaupt sinnvoll scheinen, wie in meinem Fall. Sie glaubte ohnehin bei allen möglichen Aktivitäten, daß sie nur aufgrund ihrer Initiative zustande kämen. In Wirklichkeit verdankte sich diese verspätete Erfurt-Reise dem Internet, genauer gesagt, einem Herrn Hartmann aus Möbisburg, der das Netz genutzt und mich aufgrund irgendeiner Dateneintragung als, wie er meinte, »Möbisburger« ausfindig gemacht

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