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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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sagte nur: Nun du. Ich hielt meine Zigarette kurz hoch – erst noch aufrauchen. Rudi nickte herüber und Pitze sagte noch mal: Und nun du.
     
    Jahre später erzählte ich Leiser diese Geschichte von Rudi, Pitze und dem Mädchen in der roten Samtjacke. Zu der Zeit schrieb er ausschließlich Gedichte und reagierte oft mit pseudogehobenen Sinnsprüchen: Es wohnt Genuß in dunkler Waldesgrüne … Ja schon, aber die Frage war, welcher Genuß? Als ich an dem betreffenden Nachmittag die hintere Buschbutze betrat und die dort hockende Frauengestalt sah, als mir ihre weiße Haut, der unter der Achsel aus dem Turnhemd quellende, volle Busen, ja, der gesamte weibliche Körper bereits zum Berühren nahe schien, als weiteren Handlungen außer der von mir befürchteten Unbeholfenheit nichts mehr im Weg gestanden hätte, da passierte etwas, das die Situation grundlegend veränderte – im selben Augenblick war ein junger Fuchs aus dem Unterholz getreten und hatte sich zu uns gestellt.
     
    Ach wie süß, hatte Leiser gesagt.
    Einerseits ja, sagte ich, andererseits wiederum nicht –
    denn der Fuchs blieb einfach stehen und nahm mich fest in den Blick.
     
    Auge in Auge verharrten er und ich wie festgezaubert auf der Stelle, einer im Bann des anderen, ohne die geringste Bewegung, den leisesten Laut – eine Begegnung der höheren Art, ein Moment der andächtigen Zugewandheit, der äußersten Anspannung in der Ruhe. Zehn, oder zwanzig Sekunden standen wir beieinander wie die Figuren eines arrangierten Bildes, eines lebensgroßen Krippenspiels. Eine halbe Ewigkeit lang geschah nichts, bis das leuchtend schöne, präsente Tier mit einem schnell ausgeführten, weniger als einen Wimpernschlag dauernden Abflug unser Zusammensein beendete und völlig geräuschlos wieder im Unterholz verschwand.
     
    Danach löste sich die Schreckstarre erst langsam. Das Mädchen hatte sich vom Mooslager erhoben, ihre Bluse gerichtet und wollte nicht länger an diesem Platz bleiben. Zurückgekehrt zu den anderen und nach wie vor sehr aufgeregt, beschrieben wir unser Erlebnis Dutzende Male in allen Einzelheiten – anderes Erwähnenswertes passierte an diesem Tag nicht mehr.
     
    Wenn das mal keinen Schatten auf deinen sexuellen Lebenslauf geworfen hat, hatte Leiser gesagt – so kurz vorm Ziel die eigene Premiere zu verpassen …
     
    Leiser erzählte noch, er habe bei Jünger gelesen, was Jünger bei Brehm gelesen habe, als der über Füchse berichtete, genauer gesagt, über ein von ihm betreutes Pärchen von Füchsen oder Wüstenfüchsen, das in seinem etwas abgelegenen Käfig selten von den Wärtern besucht wurde. Jedesmal, wenn das geschah, gebärdeten die Tierchen sich unsinnig vor Freude und gerieten tänzelnd und springend zuletzt so in Aufregung, daß sie sich begatteten.
     
    Damals wollte mir nicht in den Kopf, daß eine körperlich quasi erwachsene Frau sich ohne Bedingungen für ein paar grüne Jungs hingelegt hatte – allen voran unser Rudi, ein Lehrling mit hübscher Haartolle, aber einen Kopf kleiner als sie. Was war’s denn, das ein weibliches Wesen zur Hingabe bewog? Das blieb auch im späteren Leben oft genug ein Rätsel und zog in schwierigen Phasen jede Menge Theoriehuberei nach sich.
     
    Im Grunde genommen ist es ganz einfach, so hatte Leiser die anhand des Brehmschen Fuchs-Pärchens von Jünger gewonnene Erkenntnis erläutert – jeder Tanz, jede Freude überhaupt ist spiegelbildlich, ist eine Vorstufe der Vereinigung.
     
    Die Clique blieb nur einen Sommer lang zusammen, der Fritze wurde, Gerüchten zufolge, zu mehreren Jahren Knast verurteilt, das Mädchen mit der roten Samtjacke ging andere Wege. Eine Weile haderte ich noch damit, daß die Duplizität zweier gleichzeitiger Naturereignisse an jenem Nachmittag in der Waldbutze unser näheres Kennenlernen verhindert hatte. Sie gehörte zu den Flüchtlingen aus östlichen Reichsgebieten, die mein Vater ›Inakellas‹ nannte, was weniger auf einen Indianerstamm als auf den Dialekt dieser Leute anspielte, die Sätze wie ›ich gehe in den Keller‹ ihrer Herkunft entsprechend schlesisch aussprachen. Wenn ich in späteren Zeiten an dieses Kindheitsdorf zurückdachte, dann mit der Tendenz zu beschönigenden, nostalgischen Erinnerungen, die ihre Entstehungsgeschichte nicht ergründeten und um schmerzliche Erkenntnisse einen Bogen machten. Weder als junger noch als älterer Mann brachte ich es fertig, irgend jemandem in aller Ehrlichkeit von meiner Familie zu erzählen, von den

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