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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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als die Sprache selbst. Das bedeutete nicht, daß es keine Weiterentwicklung gegeben hätte. Wir richteten uns ein, strichen die Wände in dunklen, erdfarbenen Tönen neu, die Gardinen für die hohen Fenster wurden von mir aus blauen, exakt zugeschnittenen Plastik-Müllsäcken ordentlich zusammengeklebt oder -getackert – in Katjas Augen vielleicht einen Tick übertrieben, zu eng am No-Future-Zeitgeist. Auch ihre Mutter fand an den Gardinen wenig Gefallen, als sie aus Westdeutschland angereist kam und bei der Einrichtung Schlimmeres verhüten wollte; morgens schaute sie sich verunsichert in der Küche um, während die Sonne hereinschien und den karg möblierten Raum in ein magisch-türkises, mülltütenblaues Licht tauchte. Meine (konsumkritischen) Gestaltungsideen waren der Hamburger Bürgersfrau so noch nicht ›untergekommen‹, wie sie sagte – aber, mein Gott, wenn ihr’s mögt.
     
    Sie mochte die Gardinen jedenfalls nicht. Und was sie überhaupt nicht mochte, waren das Bad und die Toiletten, deren Säuberung – zugegebenermaßen – Nachbesserungen vertragen konnte, wenn jemand nur tief genug hineinblickte. Als sie sich dann hinkniete, um mit einer Rasierklinge in der Kloschüssel herumzufuhrwerken und den Urinstein mit umständlichsten Säbeleien aus dem Abflußrohr zu entfernen, ging mir das zwar zu weit, jedoch ohne daß ich entschieden dagegen protestiert hätte. Katjas Mutter war eine geborene ›von und zu Reuth‹, die den ihr dynastisch zustehenden Titel Baronin nach der Heirat mit einem ›Bürgerlichen‹ abgelegt hatte. Nach Abklingen der ersten Peinlichkeitsgefühle kuckte ich ihrem angestrengten Gekratze vom Flur aus eine Weile zu und dachte, eigentlich unglaublich, daß sich eine Frau wie sie hier so reinhängte … – ihr blaublütiger Arm steckte bis zur Schulter in meinem Klo. Welch ein Wandel, welch große gesellschaftliche Veränderung, ein sozialer Fortschritt gar – eine Adlige machte die Drecksarbeit für einen jungen Mann aus dem Volke! Vielleicht ein postrevolutionärer Bonus für mich ganz persönlich … zehn Jahre nach Achtundsechzig gewährt …
    Für unser damaliges Zusammenleben brachte Katjas Herkunft allerdings auch Nachteile mit sich. Ihre Mutter hatte auf dem elterlichen Gut in Ostpreußen weder kochen gelernt noch selbst kochen müssen und daher später ihrer eigenen Familie am liebsten Dosenkost vorgesetzt – mit der natürlichen Folge, daß bei ihrer Tochter eine ärgerliche Kochstörung zurückgeblieben war. Jeden Abend ins Restaurant zu gehen, wurde nach ein paar Wochen selbst in den sich kommunistisch gebenden Pizzerien zu teuer. Und weil Katja ihre Ungeschicklichkeit am Herd nicht abzulegen vermochte, ging die Aufgabe, für unser Essen zu sorgen, umgehend auf mich über – ich mußte also kochen lernen, und das von der Pieke auf, mit zunächst drei nur geliehenen Pfannen und Töpfen. Ein neuer Mittelpunkt unseres Zusammenlebens entstand. Froh, Gutes für Katja tun zu können, fragte ich mich in Sachen Kochkunst durch und kreierte im Nu neun verschiedene Gerichte; die beste Freundin meiner Ex Régine führte ein Altersheim und diktierte mir in mehreren Ferngesprächen einige urdeutsche Rezepte – eine zunächst leicht sedierende Küche, die dann allmählich verschärft wurde.
     
    Vollkommen klar jedoch, daß mehr geschehen mußte, daß intellektuelle Späße und die kontinuierlich verbesserte Kocherei nicht genügten, um auf Dauer ein befriedigendes Pärchenleben zu führen … Ohnehin war’s in der Situation schwer für mich, zwischen heimischer Pflicht und dem Seinstaumel draußen das psychische Gleichgewicht, die emotionale Balance zu halten … schwer offenbar auch für andere. Wenn ich, noch gerädert von der wieder durchgrübelten Nacht, gegen elf Uhr zum Zeitungshändler ging, schleppte sich mein Altersgenosse Iggy Pop auf der anderen Straßenseite den leicht ansteigenden Weg hoch … der kleine Kämpfer mußte sich seinen Heimweg mit beiden Händen von Haus zu Haus ertasten … an der Ecke, wo wir neuerdings lebten, in Schöneberg, in der Langenscheidtstraße, unweit Dudenstraße, einer Nachschlaggegend also. Bereits nach wenigen Tagen in der neuen, gemeinsamen Wohnung war jeder für sich zum Schlafen in eins der jeweils am Ende der langen Flure liegenden Zimmer gezogen; Katjas Trauertelefonate und das leise Weinen in mancher Nacht dennoch weiterhin hören zu können, quälte mich. War gerade ein gutes Jahr her, der Beginn unserer verliebten Jagd, als

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