Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
… Achtundsechzig darf nicht sterben, notierte ich auf einen Spickzettel, das wär ’ne gute Aussage, das hatte Humor, das bot Assoziationsräume und stieß mich trotzdem wieder auf das unauflösbare, schizzoide Patt in meinem Kopf, den lebensbegleitenden Widerspruch – grundsätzliche Veränderungen der Verhältnisse mußten damals wie heute sein, doch mit Gewalt, ohne die ’s nicht geht, nein. Völlig klar, daß diese Einladung bei mir Verwirrung auslöste, mich hatte es ja zu diesem titelgebenden Zeitpunkt wirklich gegeben, auch wenn ich die damit verbundenen Gewaltakte seinerzeit im selben Moment verdrängte, in dem sie bekannt wurden … Und daher auch keine feuchten Hände bekam, wenn sich am Tresen meiner Stammkneipe irgendein Aushilfsfahrer der RAF für eine Weile unter versteckt und offen bewundernden Blicken niederließ, ehe er dann schließlich doch nach Saudi-Arabien türmen mußte.
Umgeben von entspannten Linienflugreisenden las ich nochmals in meinen Notizen, um weitere markante Schlüsselsätze herauszuschmecken, gegebenenfalls zu memorieren und auswendig zu lernen – ein durchaus verachtungswürdiges Geschäft, ein Anschlußgeschäft sozusagen, in dem die feinsten Formulierungen des einst rauhesten Geschehens, seine im nachhinein hartethische Verkunstung so wie der medienschnittige Zitatenprunk gehandelt wurden … Gelegenheitsarbeiten auch für einst tatsächlich beteiligte Aktivisten, wie die Website der RAF überraschenderweise verriet, wo sich einige ehemalige Mitglieder nach der Strafverbüßung die Freiheit nahmen, als ihren Beruf Buchautor oder Dokumentarfilmer anzugeben und sich so aufs neue, wiederum wenig bescheiden, ins gesellschaftliche Gefüge einzugliedern.
Über meinen Mitdiskutanten erfuhr ich im Netz, daß er neben seinen gruppendienlichen Tätigkeiten in Frankfurt eine Suchtphase durchstehen mußte, die sich zeitlich mit der meinigen deckte, so um 1970 , zwei experimentelle, harte Jahre, versteht sich. Unter Umständen waren wir uns sogar mal über den Weg gelaufen, beim Spätkauf in Kölner Kneipen oder in Darmstadt, genauer im Jugenheimer Forst, in der Fixermühle am rauschenden Bach, wo sich im halbdunklen Gemäuer eigentlich jeder Junkie des südwestlichen Ballungsraums phasenweise ausruhte, wo jeder Frankfurter dieser noch raren, gespenstischen Spezies tagelang selig versackte. Auch wenn wir beide milieuähnlich gelebt haben sollten, dürften wir uns 35 Jahre später wohl kaum wiedererkennen, würden brüderliche Gefühle nicht aufkommen. Die Veranstalter wußten von dieser delikaten Parallele zweier ihrer Diskutanten ohnehin nichts.
Bei der Ankunft in Zürich stellte sich heraus, daß aus der gleichen Berlin-Maschine ein weiterer Teilnehmer erwartet wurde – der Projekt- 68 -Leiter, ein Dozent namens Rudolph, holte uns ab, begleitet von einer deutsch-japanischen Studentin. Vielen Dank, sagte ich ihm, da haben Sie sich ja einen Haufen Vergangenheit eingeladen, eine ganze Handvoll Wahrheitssucher von vorgestern … und jeder von sehr unterschiedlicher Art, antwortete er. Ein gut erhaltener Endfünfziger, hierher verschlagen, doch mittlerweile an einem inneren Bodensee eingefriedet, wie er andeutete, und nach einer Odyssee durch die verschiedensten Institutionen endlich mit großer Handlungsfreiheit ausgestattet. Wir könnten uns ohne Eile noch ein paar Sachen auf der Schweizer Seite ansehen, schlug er vor, nachdem der Mitdiskutant uns komplettiert hatte. Ein mir sofort sympathischer, für altlinke Berliner Verhältnisse aufwendig gekleideter Endsechziger, dessen dreiteiliger Tweed-Woll-Anzug schwer nachvollziehbar geschnitten war, also irgendwie schief und teilweise auch gewickelt, das fracklange Sakko in den Schößen schräg überlappend, die Weste nicht parallel zur Gürtellinie geführt, sondern etwa im 45 -Grad-Winkel linksseitig aufsteigend, dafür rechtsseitig tieferreichend, nach meinem Geschmack mindestens zwei Ticks zu gewagt. Es sah aus wie eine von Vivian Westwood erarbeitete Version der Garderobe von Sherlock Holmes. Wobei sich auf dem Weg zum Auto zeigte, daß diese insgesamt sehr stoffreiche, braun-beige gemusterte Kreation in ganz unterschiedliche Formen fallen konnte, bei wechselnder Perspektive sozusagen mehrere Anzüge aus einem herausbildete, was von der Körperhaltung des Trägers oder vom Auf- oder Zugeknöpftsein der verschiedenen Teile abhing – mitunter wurde auch die im Schritt uneuropäisch tief hängende Hose genauer erkennbar, eine nach
Weitere Kostenlose Bücher