Guy Lacroix: Auf der Jagd nach dem Rosenkranzmörder (Clockwork Cologne) (German Edition)
Luft würde sie nur Gestank und Schmutz hereinlassen.
Sie blickte zur Uhr über der Tür. Die Stunde bis zu ihrem Dienstschluss würde sie schon noch überstehen. Martha seufzte und lehnte sich in dem knarzenden Bürostuhl zurück, streckte die Beine lang aus. Das war keine damenhafte Haltung, aber es war ja niemand außer ihr im Zimmer, der sie deswegen hätte rügen können. Sie starrte auf die abgestoßenen Spitzen ihrer bequemen Knöpfstiefel. Die Sohle schien sich zu lösen, sie musste unbedingt bald zum Schuster damit.
Die Minuten dehnten sich endlos. Heute war ein ruhiger Tag, das lag am Wetter. Die Menschen blieben lieber in ihren Wohnungen. Noch vierzig Minuten.
Der Dienst am «Vertrauenstelephon«, für den jeder Sicherheitsbeamte der DMG einmal im Monat eingeteilt wurde, war Martha verhasst. Sie hatte vor zwei Jahren sogar einmal ihren Vorgesetzten gebeten, sie davon zu befreien - natürlich ohne Erfolg. Das gehörte nun mal zu den lästigen, aber notwendigen Aufgaben, die erledigt werden mussten. Überall in der Stadt standen die kleinen, leuchtend roten Zellen mit einem Telefonapparat, der ohne Umweg über das Amt direkt mit dem Sicherheitsdienst der DMG verbunden war. Wer eine dieser Zellen betrat und den Hörer abnahm, der landete …
Das Telefon klingelte, und Martha zuckte heftig zusammen. Sie griff nach dem Hörer und legte ihn ans Ohr. «Vertrauenstelephon«, sagte sie, «Ihre Sorgen sind unsere Sorgen. Sie sprechen mit Martha Kühn. Was kann ich für Sie tun?«
Sie lauschte abwesend der quakenden Stimme am anderen Ende, die ihr in einem endlosen, monotonen Sermon etwas über den Ärger mit einer frechen Hauswirtin und den dreckigen, lauten Nachbarn erzählte. Sie gab zustimmende, besänftigende Brummlaute von sich, krakelte die Schreibtischunterlage weiter voll und klopfte dann mit ihrem Bleistift mit zunehmender Gereiztheit auf die Tischplatte. Als der Anrufer endlich zu dem Punkt kam, wo er sich über den verkommenen Mieter über seiner eigenen Wohnung beschwerte, der ständig betrunken nach Hause kam und seine Frau prügelte, und der seit einiger Zeit verdächtigen nächtlichen Besuch erhielt, unterbrach sie den Redestrom mit einigen gezielten, knappen Fragen, notierte Namen, Zeiten und Adresse und erklärte dann, man werde sich um alles kümmern.
Sie legte auf und versah die Notizen mit den passenden Chiffren, damit die Beamten, die sich um die Sache kümmern würden, eine erste Einschätzung bekamen. Querulant, Beobachtung der Dringlichkeitsstufe II (kein akuter Handlungsbedarf, aber eine Überprüfung wäre angebracht), mögliche Verbindung zu Anarchisten und/oder Schwarzmarkaktivitäten.
Sie legte das ausgefüllte Formular in den Ausgangskorb und blickte wieder zur Uhr. Noch fünf Minuten. Ihr Dienst an der Denunziationsleitung war gleich beendet. Auf dem Heimweg würde sie noch schnell Milch und ein paar Eier einkaufen, und dann wartete ein stiller, friedlicher Abend am Kamin auf sie, mit einem schönen Buch und keinem Geräusch als der tickenden Uhr auf dem Kaminsims.
Martha stützte den Kopf in die Hände und stieß einen kleinen Jammerlaut aus. Der kleine Moment der Schwäche ging vorbei, sie erhob sich und überprüfte im Spiegel den Sitz ihrer Frisur, steckte zwei Nadeln fest, die sich gelöst hatten und musterte flüchtig ihr Gesicht. Ordentlich. Mehr als das würde es auch nie sein. «Bierkutschers Tochter, Gesicht wie'n Gaul« hatten die Nachbarskinder ihr früher nachgerufen. Als junges Mädchen war sie darüber so unglücklich gewesen, dass sie am liebsten gar nicht mehr aus dem Haus gegangen wäre. Inzwischen war sie alt genug, um nur noch stille Resignation darüber zu empfinden, wie sie aussah. Es gab eben Schönheiten, denen das Leben zulächelte, und dann gab es solche wie sie - brave, fleißige, unauffällige «späte Mädchen«.
Wenn sie nicht damals das unverschämte Glück gehabt hätte, bei einer der jährlich stattfindenden Prüfungen der Dampfmagischen Gesellschaft als magisch talentiert beurteilt zu werden und dadurch diese wunderbare und erfüllende Aufgabe erhalten zu haben - was hätte sie dann vom Leben erwarten können? So aber ging sie jeden Morgen mit frischem Elan an ihren Schreibtisch, wurde in regelmäßigen Abständen einem der Kriminalfälle zugeteilt, bei dem die Anwesenheit eines Beamten der DMG als notwendig erachtet wurde, und hatte ein ausgefülltes und interessantes Leben - so, wie sie es sich immer gewünscht hatte.
Die Uhr schlug die
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