Gwen (German Edition)
Wuschelperücke war das einzig Auffällige an ihr, doch es blieb Gwen nichts anderes übrig, als sie wieder aufzusetzen. Vorsichtig trat sie hinaus in den Gang.
Obgleich das Licht der einfallenden Morgensonne die abg ewetzten Treppenstufen und die Risse im Mauerwerk unter dem abblätternden Putz schonungslos ausleuchtete, wirkte das schlummernde Haus nun nicht ganz so trist wie gestern Nacht. Gwen benutzte Toilette und Waschbecken, welche zwar zu den Veteranen unter den Sanitäreinrichtungen gehörten, zum Glück aber sauber geputzt waren, und notierte sich ein Handtuch und eine Zahnbürste auf ihrem geistigen Einkaufszettel. Dann verließ sie das Gebäude.
Das Rotlichtviertel lag zu dieser Stunde ganz offe nsichtlich in einem tiefen Koma. Tränen der Dankbarkeit wallten in Gwen hoch, als sie ihr Gesicht mit unsäglichem Genuss der Sonne entgegenreckte und das Gefühl der Freiheit genoss, ohne Gitter, ohne Wände und ohne Bewachung einfach nur herumlaufen zu können.
Bewachung?
Plötzlich misstrauisch schaute sich Gwen um, sah jedoch niemanden. Dennoch ging sie über ausgedehnte Umwege zum Einkaufszentrum, bis sie sicher war, dass sie nicht beschattet wurde. Denn schließlich konnte Statler ja auf die Idee kommen, dass sie sich mit ihrer Zellengenossin verbündet und bei ihr Unterschlupf gefunden hatte.
Oder nicht?
Rasch erledigte sie ihre Einkäufe und wählte in einer Telefonzelle die Nummer von Pats Diensthandy. Erleichterung überflutete sie, als Pat sich meldete. „Hallo, Pat! Ich wollte dich nicht daheim anrufen, weil unser Telefon wahrscheinlich noch immer abgehört wird. Dass dein Diensthandy freigeschaltet ist, heißt wohl, dass du deinen Arbeitsplatz noch hast?“
„Ja, zum Glück“, ertönte Pats Stimme durch den Hörer. „Mein Chef hat mir versichert, dass er nie geglaubt hat, dass ich was mit Drogen zu tun habe. Aber ich habe den Verdacht, dass er ei nfach so schnell keinen Ersatz für mich aufgetrieben hat.“
„Wie auch immer, die Hauptsache ist, du hast deinen Job noch. Wahrscheinlich lässt Statler dich beschatten, um an mich ranzukommen. Also pass gut auf dich auf! Ich melde mich wieder. Tschüß!“
„Halt, warte!“
„Schnell, Pat! Vielleicht lässt Statler auch dein Handy abhören und kann so meinen Standort aufspüren.“
„Okay, nur ganz kurz! Norman ist frei.“
Gwen blinzelte vor Überraschung. „Was? Wie hat denn diese Anwältin das so schnell erreicht?“
„ Sie ist eben gut, die Frau. Genaueres weiß ich aber auch nicht. Er hat mich nur vorhin angerufen und gesagt, dass er frei ist, und er weiß auch nicht wieso.“
Ein Stein fiel Gwen vom Herzen. „Oh, wow, Pat, das freut mich! Küss ihn von mir! Aber jetzt muss ich wirklich Schluss machen. Bis bald!“ Gwen legte auf, hastete von der Telefonzelle fort und gelangte wiederum auf Umwegen zurück ins Rotlichtviertel, das auch jetzt kurz vor Mittag noch immer in seinem anrüchigen Erschöpfungsschlaf versunken war.
In der Küche auf Corys Etage arrangierte sie ihre Beute - Toastbrot, Butter, Marmelade, Cornflakes, Orangensaft, Milch, Eier - auf dem Tisch, durchsuchte die vergilbten Einbauschränkchen nach Geschirr, kochte Kaffee und briet Rührei.
Sie trank schon die vierte Tasse, da tauchte Cory auf, verschlafen, in einen lose hängenden Kimono aus petrolfarbener Kunstseide gehüllt, die langen, Neid erregend glatten Haare wirr um ihre Schultern hängend. Sie ließ sich auf den Stuhl mit dem karierten Sitzpolster fallen, der ein bisschen aussah wie ein alter, schottischer Haudegen im Kilt.
„Guten Morgen!“ Gwen schenkte eine Tasse Kaffee ein und stellte sie vor die gähnende Prostituierte.
„Wie spät ist es?“ Cory hatte sichtlich Mühe, die Augen offen zu halten.
Gwen sah sich vergeblich nach einer Uhr um. „Schätzungsweise zwölf Uhr mittags. Wann steht ihr denn normalerweise auf?“
„Alex und Brenda nie vor eins.“ Nun brachte Cory ihre Lider doch ganz auf und richtete den Blick auf den gedeckten Tisch. „Hast du das alles hier besorgt?“ Als Gwen nickte, fuhr sie fort: „In dem Fall kannst du gern länger hier bleiben. Wie hat dir überhaupt deine erste Nacht bei den Nutten gefallen, Jackie? “ Diesen Namen betonte sie übertrieben. „Ich meine, abgesehen von deinem Alptraum. Bist du nicht schockiert?“
„Nein.“ Gwen öffnete die Cornflakes-Packung. „Wenn man von der Warterei absieht, finde ich es ganz interessant. Außerdem bin ich dir sehr dankbar, dass du mich aufgenommen
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