Gwen (German Edition)
beschleunigte sich, eine Gänsehaut kroch über ihre Unte rarme. Sie atmete tief, aber zittrig durch, ging zur Tür und rief: „Wer ist da?“
„ Der Krawattenmörder“, ertönte Helens Stimme.
Gwen fragte sich irritiert, warum sie mehr enttäuscht als erleichtert war, als sie Helen herei nließ. Diese umarmte sie kurz, schoss aber dann an Gwen vorbei ins Zimmer, plumpste auf das Sofa und schnaubte: „Du hast Nerven, jetzt erst zu kommen! Morgen ist der Prozess, und du hast noch nicht die leiseste Ahnung von unserem Konzept.“
„Tee ?“, fragte Gwen.
„Das ist genau das, was ich jetzt brauche .“ Helen streckte ihre langen Beine von sich. „Wie war es in Irland?“
„Schön.“ Natürlich hatte Gwen nicht vor, Helen die Sache mit Statler zu erzählen.
„Dann hast du dich wenigstens gut erholt. Hast du dir überhaupt schon überlegt, was du morgen anziehst?“
„Noch nicht.“
„Was?“ Helen sprang auf, riss Gwens Schrank auf und wühlte darin. „Das ist doch das Wichtigste überhaupt! Vielleicht wichtiger als das, was du sagst.“
„Vielleicht das Khaki-Kostüm ?“, schlug Gwen vor.
„Zu brav . Das sind alles Männer, Gwen! Der Richter, Beisitzer, Staatsanwalt, alles Männer. Denen kannst du nicht mit hemdsärmeligem Khaki-Fummel oder Survival-T-Shirts kommen. Und so wie es aussieht, kommst du ins Fernsehen. Da musst du schon annähernd fotogen sein.“
Helen entschied sich für den schwarzen, knielangen, aber hau tengen Rock. Dazu das Oberteil aus smaragdfarbener Viskose, das Gwen im Ausverkauf günstig erstanden und eigentlich für Anlässe wie Theaterbesuche reserviert hatte. Es war ebenfalls hauteng, tief ausgeschnitten und schulterfrei, nicht mehr als eine Korsage. Dazu wählte Helen den Bolero aus schwarzem Samt, den Ian ihr zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Dafür hatte er ein Lamm verkaufen und bis nach Dublin fahren müssen.
„Ist das nicht etwas zu gewagt ?“, wandte Gwen ein.
„Ach was! Vertrau mir, ich kenne die Männer!“
„Was ziehst du an, Helen?“
„Das heiße rote Kostüm. So sorgen wir dafür, dass all denen die Unterkiefer runterklappen, die uns automatisch in Norwegerpullovern und lila Pumphosen erwarten.“
Die Türglocke klingelte erneut. Und wieder zuckte Gwen z usammen. Bitte nicht Dirk Statler, solange Helen da ist! Aber es waren nur Thomas, Alfred und Mark.
Mark!
Gwen hatte ihn in Irland fast vergessen. Sie beobachtete ihn verstohlen und fragte sich, wo jenes Kribbeln geblieben war, das sie sonst immer in seiner Nähe verspürt hatte.
Während sie noch auf der Suche danach war, kam der Rest der Survival-Aktivisten: Lutz, Vera, Renate und Michael, sowie Sascha als Delegation der Stuttgarter, Karin der Hannover und Natalie der Frankfurter Survival-Gruppe.
Außerdem zwei Frauen, die Gwen noch nie gesehen hatte: Kate, eine Schottin, Reporterin bei den Survival News, und Mandy, Engländerin und Juristin in der Londoner Survival-Zentrale, beide extra für den Prozess aus London angereist. Und da war noch Roland Hennings, Survivals deutscher Anwalt, den Helen aufgetrieben hatte. Und der, wie es aussah, zugleich als ihr derzeitiger Lover fungierte. Bisher war Gwen nicht nervös gewesen.
Jetzt schon.
Mandy und Kate extra aus London, die Bedeutung des Prozesses für die gesamte Umweltbewegung, Helens Lover, der sich mit kritischem Blick einen Vollkornkeks griff, und ihr kleines Zimmer, das vor lauter Menschen aus allen Nähten quoll – das alles genügte, um Gwen in eine Panikattacke zu stürzen.
Manche saßen auf dem Sofa oder den Sesseln, die meisten aber aus Platzmangel auf dem B oden. Man diskutierte heftig darüber, welcher Argumentationsstrategie sich Gwen morgen bedienen sollte. Normalerweise liebte sie diese typischen Survival-Sitzungen, denn sie diskutierte gern, entwarf gern, plante gern. Diese Zusammenkünfte hatten trotz aller breitgetretenen Kontroversen immer etwas Kreatives, Kämpferisches und doch gleichzeitig etwas Anheimelndes, Familiäres.
Doch den heutigen Abend empfand Gwen eher als B elastung denn als Hilfe. Was zum Teil sicher auch daran lag, dass sie gar nicht nachkam mit dem Kochen von Tee, während die anderen sich hitzige Verbalschlachten lieferten. Und die Bio-Salzstangen waren auch schon wieder leer.
Die Einzige, die ihr half, war die Survival-Reporterin Kate, deren echtes Interesse an Gwens Meinung einen angenehm balsamierenden Effekt auf ihre strapazierten Nerven
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