Gwydion 02 - Die Macht des Grals
Ereignisse der letzten Wochen zu verlieren. Mit Lancelots Rückkehr war Camelot in eine tiefe Krise gestürzt worden. Alle spürten es und warteten auf ein Wort des Königs.
Doch Artur schwieg.
Seit der Öffnung der Kiste mit den Gebeinen von König Bran hatte man den Herrscher nicht mehr gesehen. Man erzählte sich, dass er nur einem engen Kreis von Bediensteten erlaubte, seine Gemächer zu betreten.
Auch Königin Guinevra und Aileen waren aus dem höfischen Leben verschwunden. Die meisten Gerüchte waren nicht besonders freundlich. Einige der Bediensteten glaubten sogar, dass Artur sowohl die Königin als auch die Prinzessin gegen ihren Willen festhielt, und hatten auch gleich eine Reihe abenteuerlicher Erklärungen dafür parat: Eifersucht war das Wort, das dabei am häufigsten fiel. Andere, die Arturs Enttäuschung mitbekommen hatten, als er statt des Grals nur ein paar Knochen in der Kiste fand, glaubten, dass der alte Mann, befallen von einer tiefen Melancholie, langsam den Verstand verlor.
Und es gab niemanden, der sich gegen die Gerüchte stemmte. Auch Merlin nicht, der sich vollkommen zurückgezogen hatte und damit beschäftigt war, Lancelot das Leben zu retten.
Einzig Sir Kay hatte sich von dieser Stimmung nicht lähmen lassen und führte in Stellvertretung des Königs als Hofmeister ein eisernes Regiment. Und nicht nur Gwyn war froh, dass Rowans Vater ohne Rücksicht auf Stand und Ansehen jeden an seine Pflichten erinnerte.
So kam es, dass Gwyn zum ersten Mal ungestört den Lektionen der Ritter folgen konnte, die die Knappen im Umgang mit Schild und Schwert, Pfeil und Bogen sowie dem waffenlosen Nahkampf unterrichteten. Innerhalb kürzester Zeit verbesserten sich auch Gwyns Fähigkeiten als Reiter. Zudem zeigte sich bei ihm ein Talent für das Bogenschießen. Schon nach einer Woche hatte er die anderen Knappen eingeholt und es würde keine weitere Woche dauern, bis er sie überflügelt haben würde.
Rowan schien wieder ganz der Alte zu sein. Wenn ihm das Verhalten seines Vaters und der Prinzessin weiterhin zu schaffen machte, ließ er es die anderen nicht merken. Nur wenn sich Rowan unbeobachtet fühlte, konnte Gwyn sehen, wie sein Freund litt.
Zusätzlich zu seiner Ausbildung als Knappe unterrichtete ihn Katlyn weiter im Lesen und Schreiben. In jeder freien Minute hatte er sich ihre Fibel vorgenommen und beherrschte nun nicht nur das Alphabet, sondern war auch in der Lage, ein gutes Dutzend lateinischer Wörter zu lesen und auch zu schreiben.
Katlyn hatte die peinliche Situation, in der sie von Merlin erwischt wurden, nie wieder erwähnt, was Gwyn nur recht war. Am liebsten hätte er den Vorfall aus seinem Gedächtnis radiert. Und das war ein weiterer Hinweis darauf, dass die Stimmung in Camelot auf einem Tiefpunkt angekommen war: Niemand machte mehr dumme Witze über ihn und seine Lehrerin. Jeder kümmerte sich nur noch um seine eigenen Angelegenheiten.
Gwyn hatte sich dazu entschlossen, Merlins Ratschlag zu beherzigen, und widmete sich nun mit Eifer dem Studium. Die gegenwärtige Stimmung hatte ihn zum ersten Mal ahnen lassen, dass Camelot vielleicht nicht ewig bestehen würde, und da war es ratsam, so gut gerüstet wie möglich dem Leben jenseits der Burgmauern entgegenzutreten.
Als er an diesem Abend an Katlyns Kammer klopfte, wurde die Tür hastig aufgerissen.
„Gut, dass du da bist“, sagte sie atemlos. „Merlin hat nach uns rufen lassen.“
„Ist irgendetwas geschehen?“ fragte Gwyn beunruhigt.
„Es geht um Lancelot, mehr weiß ich auch nicht“, erwiderte sie.
Eine düstere Vorahnung beschlich Gwyn, als sie hinaus auf den Burghof traten und die Treppen zu Merlins Gemächern im Westturm hinaufeilten. Doch als ihnen geöffnet wurde, schauten sie in das erschöpfte, aber erleichterte Gesicht des königlichen Ratgebers.
„Nur herein mit euch, es gibt gute Nachrichten“, sagte er.
Gwyn trat ein – und erblickte Lancelot, der aufrecht in seinem Bett saß und vorsichtig eine Suppe löffelte. Offenbar war er auf dem Weg der Genesung. Zwar spannte sich die Haut noch immer wie Papier über seine markanten Knochen, doch hatte sie nicht mehr die ungesunde gelbe Farbe wie noch vor Gwyns Reise nach Wales. Als Lancelot den Jungen sah, lächelte er ihn breit an und stellte den Teller auf einen kleinen Tisch.
„Du bist Gwydion, nicht wahr?“
Gwyn nickte. Es gab nicht viele, die ihn bei diesem Namen nannten.
„Merlin hat mir erzählt, dass ich dir mein Leben verdanke.“
Zögernd
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