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Haarmanns Kopf

Haarmanns Kopf

Titel: Haarmanns Kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Ebstein
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Seitenstraße parkt, wundert sich der Bursche, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen Leichenwagen handelt, misst diesem Umstand aber keine weitere Bedeutung bei und beginnt zu reden. Unaufhörlich.
    Miroslav ist Mitte zwanzig. Er ist in einem Waisenhaus in Bratislava aufgewachsen, erzählt er. Bevor er nach Hannover gekommen ist, hat er in der Slowakei auf dem Rummel gejobbt. Ein Mann, der selbst am Bahnhof auf den Strich gegangen war, hat ihm erzählt, mit ein bisschen Sex könne man dort ein paar hundert Euro im Monat verdienen. Miroslav hat seine Sachen gepackt und ist am 28. Dezember des vergangenen Jahres in Hannover eingetroffen, um seinen Traum zu verwirklichen: 10.000 Euro für ein Auto und eine bessere Wohnung.
    In einer kleinen Stadt in der Slowakei warten seine Frau und sein einjähriger Sohn auf ihn. Seine Frau lässt er in dem Glauben, einen Job in einer Restaurantküche gefunden zu haben. Gewissensbisse und Angst vor ansteckenden Krankheiten belasten ihn schwer.
    Geschlechtsverkehr und Küssen ist nicht, sagt er mir. Nur Streicheln und Wichsen bis zum Abspritzen.
    Miroslav lächelt zufrieden, als ich ihm sage, dass ich mit allem einverstanden bin. Noch ahnt er ahnt nicht, dass es seine letzte Nacht ist und ich sein letzter Kunde sein werde.
    Später, beim Liebesspiel, durchtrenne ich ihm mit einem Biss seine Kehle. Sein Todeskampf ist nur kurz. Schade. Es geht alles viel zu schnell. Aber ich bin ihm ganz nah. Ich spüre seine Haut und atme den betörenden, aphrodisierenden Duft ein, der von seinem zuckenden, sterbenden Körper ausströmt. Ein letztes Aufbäumen. Dann ist es still. Totenstill.
    Jetzt fühle ich mich wieder wie Fritz Haarmann ...
    Am frühen Morgen trage ich den schmächtigen, leblosen Körper Miroslavs die Treppe hinunter und lege ihn auf der Ladefläche des schwarzen Leichenwagens ab, den ich am Abend zuvor im Hof geparkt habe. Dann fahre ich zur Leichenhalle des kleinen Friedhofs, in der vor einigen Minuten die Trauerfeier stattgefunden hat.
    Die alte Witwe hat mich um eine geschlossene Aufbahrung ihres Mannes gebeten, da sie sich selbst und den Angehörigen den Anblick des Verstorbenen ersparen will. Ich verstehe das. Von Krebs zerfressen und bis auf die Knochen abgemagert, ist er in einem langen Kampf aus dem Leben geschieden. Ihr Mann soll allen so in Erinnerung bleiben, wie sie ihn zu Lebzeiten gekannt hatten, sagt sie mir.
    In der Leichenhalle angekommen, verliere ich keine Zeit. Ich entferne die Dekoration und den Blumenschmuck, lege beides neben den Sarg, löse vorsichtig die messingverzierten Deckelschrauben, bevor ich den Sargdeckel herunterhebe und an der Seite abstelle. Dann hole ich den toten Miroslav aus dem Wagen, lege ihn zum dem alten Mann in den Sarg und verschließe diesen wieder. Niemand wird bemerken, dass sich zwei Tote darin befinden, da beide zusammen nicht mehr als 95 kg wiegen. Bald wird der Sarg unter einer zwei Meter dicken Erdschicht begraben sein. In Hannover wird es keine Vermisstenanzeige geben und Miroslavs Frau wird nie erfahren, warum sich ihr Mann nicht mehr meldet.
    Wer bin ich eigentlich? Warum mache ich das alles?
    Ja, ich bin Bestatter und Präparator.
    Ein Grenzgänger.
    Ein Wandler zwischen den Welten.
    Tagsüber der rechtschaffene Mitarbeiter eines Beerdigungsinstituts, nachts der grausame Killer. So würde man mich wohl bezeichnen. Und irgendwo dazwischen meine Leidenschaft, tote Körper zu bewahren und diese für die Ewigkeit zu konservieren. Für mich ist das kein Drahtseilakt. Nein. Es ist vielmehr ein Weg der Selbstverwirklichung, ganz im Sinne meines Freundes.
    Er, der Psychiater, hat mir klargemacht, dass ich mich frei fühlen und – ganz wie einst Haarmann – einem roten Faden folgen soll. Meinem roten Faden.
    Heute werde ich dich treffen, mein Freund. Du hast mir versprochen, mir heute meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen. Wie lange habe ich auf diesen Augenblick gewartet? Heute Abend werden wir gemeinsam das Haupt Haarmanns von der glibberigen Masse befreien, in dem es schon viel zu lange ruht. Heute werde ich endlich Haarmanns Haut ertasten und ihm so nah sein wie nie zuvor. Ein erregender Schauer erfasst mich bei dem Gedanken ...

 
    Der Bestatter verließ seine Gedankenwelt und kehrte in die Realität zurück. Das flüchtige Lächeln, das über sein Gesicht huschte, blieb den anwesenden Trauernden verborgen.
    Niemand ahnte, welches düstere Geheimnis er bewahrte und zu welchen bestialischen Taten er fähig war.
    Der

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