Haarmanns Kopf
nur die Gehirnschnitte.
„Die Gehirnschnitte sind auch in keinem guten Zustand. Entweder lag zwischen der Gehirnentnahme und der Konservierung ein zu großer Zeitabschnitt oder mit der Formalinmischung stimmt etwas nicht.“
„Und was heißt das jetzt?“ Der Bestatter war sichtlich erregt.
„Das heißt, dass wir uns gut überlegen sollten, ob wir wirklich den Schritt wagen, die Konservierungsmasse zu entfernen.“
„Aber das ...“ Der Bestatter brach unvermittelt in Tränen aus.
Zunächst war es schreckliche Verzweiflung, die von ihm Besitz ergriff, dann erfasste ihn rasender Zorn. Die Augen weit aufgerissen, schlug er immer wieder mit den Fäusten auf den Tisch, der unter der unbändigen Kraft erbebte.
Der Psychiater wartete einen Augenblick, bevor er sagte: „Beruhige dich.“
Der Zorn schlug erneut in tiefe Traurigkeit um, und der Bestatter vergrub das Gesicht in den Händen, bevor er sich nach vorne beugte und seinen Oberkörper auf die Tischplatte fallen ließ. Er weinte bitterlich.
Der Psychiater legte tröstend seine Hand auf die Schulter des Weinenden und sagte: „Komm, wir gehen nach oben. Du wirst sehen, wir finden einen Weg.“
19
19:45 Uhr – Polizeipräsidium Göttingen. Martin hatte sich vor einer halben Stunde verabschiedet und war nach einem langen Tag nachhause gefahren. Yannik war gerade mit einem Kaffee aus der Küche zurückgekehrt und saß konzentriert an seinem Schreibtisch über der Krankenakte Dembowskis. Die Aufnahmen der Akte hatte er mit seinem iPhone via Bluetooth direkt an den Farblaserdrucker gesendet und ausgedruckt.
Während des gesamten Tages wurde er das Gefühl nicht los, sie hätten bei ihren Ermittlungen irgendein wichtiges Detail übersehen. Nun hoffte er darauf, in der Krankenakte einen Hinweis auf die Vorgehensweise Dembowskis zu finden. Mit dem Spürsinn des erfahrenen Kriminalisten und seinem Duktus folgend überprüfte er ausgiebig Seite für Seite, bis er den letzten Eintrag gelesen hatte. Es musste irgendetwas geben, das Dembowski und seinen Mithelfer als Täter entlarvte.
Wenn Dr. Paganetti Dembowski beim Verlassen der Klinik geholfen hatte, blieb die Frage offen, warum er das tat. Was war sein Motiv? Was konnte einen so hoch intelligenten Mann wie ihn dazu veranlassen, einen gefährlichen Triebtäter bei seinem Vorhaben zu unterstützen, zwei Pförtner zu ermorden und Teile von Haarmanns Kopf in seinen Besitz zu bringen? Wenn Dembowski das wirklich gelungen war, wo befanden sich der Kopf und die Gehirnschnitte jetzt?
Oder war das Ganze gar nicht beabsichtigt gewesen und einfach nur aus dem Ruder gelaufen? Hatte Paganetti die Kontrolle über seinen Patienten verloren und wollte sich jetzt die Fehlentwicklung nicht eingestehen?
Yannik zermarterte sich den Kopf und war kurz davor aufzugeben, doch dann raffte er sich noch einmal auf und begann von vorn. Beim zweiten Durchlesen blieb er an einer Stelle in der Akte hängen, die sich nicht auf Dembowskis psychologische Anamnese bezog, sondern von einem Zahnarzt stammte. Der Eintrag war fünf Jahre alt und beschrieb, dass Dembowski, bedingt durch unzureichende Mundhygiene, unter starkem Zahnbelag litt und dadurch der Zahnschmelz fast vollständig zerstört worden war. Während der Untersuchung stellte der Arzt fest, dass das Innere und die Wurzeln fast aller Zähne zerstört waren und ein Zahnverlust unvermeidlich war. Dembowski erhielt einige Wochen nach der Behandlung eine Vollprothese.
Yannik stutzte.
Lag Martin mit seiner Theorie richtig? Hatte Paganetti eine Kopie des Gebisses anfertigen lassen, die Pförtner getötet und die Prothese oder eine Nachbildung dazu benutzt, die Spur auf Dembowski zu lenken?
Aber auch das ergab keinen Sinn.
Er blätterte noch einmal zurück zur ersten Seite, auf der das familiäre Umfeld Dembowskis beschrieben war. Demnach stammte er aus einer Arbeiterfamilie in Wolfsburg. Sein Vater war schwerer Alkoholiker, seine Mutter früh verstorben. Weil das Kindeswohl massiv gefährdet war, ordnete das zuständige Jugendamt damals die Unterbringung Dembowskis und seiner beiden Geschwister in einem Kinderheim an. Er hatte eine ältere Schwester und einen älteren Bruder. Nach einem gemeinsamen Jahr im Kinderheim wurden die Kinder getrennt. Die Schwester wurde in ein anderes Heim gebracht und sein Bruder kam in eine Pflegefamilie in Höxter. Er selbst fand später ein neues Zuhause bei Pflegeeltern in Braunschweig.
Dembowski war am 17.5.1967 und sein Bruder am 17.5.1961
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