Haarmanns Kopf

geboren.
    Das ist ja ein Zufall, dachte Yannik. Beide am 17.5. geboren, nur in unterschiedlichen Jahren.
    Einer inneren Eingebung folgend betrachtete er die mit blauer Tinte geschriebenen Einträge genauer. Dabei fiel ihm auf, dass der Datumseintrag Volkmar Dembowskis eine Besonderheit aufwies. Der kleine Querstrich der 7 wich um eine Farbnuance von der restlichen Zahl ab. Außerdem verlief der nach links weisende Strich im oberen Bereich nicht waagerecht, sondern in einem 45 Grad-Winkel nach unten.
    Er sprang auf, lief zu Martins Schreibtisch hinüber und holte aus einer der Schubladen eine Lupe. Zurück an seinem Platz schaltete er die Schreibtischlampe ein. Als er das Vergrößerungsglas über die entsprechende Passage des Textes führte, sah er die Abweichung noch deutlicher.
    Die 7 war ursprünglich ein 1 gewesen.
    Das hieß, Dembowski war nicht nur im selben Jahr, sondern am selben Tag wie sein Bruder geboren.
    Volkmar und Bernhard Dembowski waren Zwillinge.
    Yannik überlegte einen Augenblick. Wenn sich das als richtig erweisen sollte, würde sich ein völlig neues Bild ergeben. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Hände hinter seinem Kopf und blickte sekundenlang auf seinen Monitor, dessen Bildschirmschoner bunte, ineinanderlaufende Spiralen zeigte.
    Nachdem er seine Gedanken sortiert hatte, beugte er sich nach vorne und brachte die PC-Tastatur in Position. Seine Finger flogen über die Tasten, als er das Melderegister des Landes Niedersachsen aufrief und den Namen Bernhard Dembowski eingab.
    Sollte sich herausstellen, dass Bernhard Dembowski in einem anderen Bundesland wohnte, würde das die Suche nach ihm erheblich erschweren, da nach wie vor kein zentrales bundesweites Melderegister existierte. Doch er sollte Glück haben. Nach kurzer Zeit wurden ihm der Name und die Anschrift übermittelt.

 
    Name: Bernhard Dembowski
    Wohnort: 37603 Neuhaus im Solling, Eichenallee 152
    Tag und Ort der Geburt: 17.05.1961 in 38440 Wolfsburg

 
    Treffer, dachte Yannik und lächelte zufrieden.
    Die Sache hatte nur einen Haken, und auf den hatte Martin bereits hingewiesen. Er hatte sich die Krankenakte unrechtmäßig verschafft und alle Informationen, die er den Unterlagen entnommen hatte, durften – rechtlich gesehen – nicht verwendet werden.
    Was tun?
    Er erinnerte sich an einen Fall aus dem Jahr 2008 in Berlin, der in den Medien für Furore gesorgt hatte. Bei einem spektakulären Einbruch ins KaDeWe hatten drei maskierte Einbrecher Schmuck und Uhren im Wert von sechs Millionen Euro gestohlen. Die beiden Hauptverdächtigen in diesem Kriminalfall waren schnell ermittelt, konnten aber wegen des Raubes nicht belangt werden. Die Staatsanwaltschaft musste 2010 die Ermittlungen gegen die als KaDeWe-Zwillinge bekanntgewordenen Brüder einstellen, weil die Beweise zur Überführung der Verdächtigen nicht ausreichten. Ein Gutachten hatte die Zwillinge entlastet. An einem am Tatort gefunden Handschuh hatte man die DNS von einem der Brüder aus Niedersachsen gefunden. Wegen der identischen DNA der Zwillinge ließ sich keinem der beiden die Spur eindeutig zuordnen.
    Yannik recherchierte weiter und fand im Internet einen Bericht, in dem es um die DNA von Zwillingen ging. Dem Fachartikel war zu entnehmen, dass man grundsätzlich zwischen zweieiigen und eineiigen Zwillingen unterscheiden musste. Dem Bericht zufolge besaßen eineiige Zwillinge dieselbe DNA.
    Waren Volkmar und Bernhard Dembowski eineiige Zwillinge?
    Würde sich herausstellen, dass die beiden über dieselbe DNA verfügten, gäbe es einen zweiten möglichen Täter. Dann musste zwangsläufig die Frage geklärt werden, wer von den beiden der Täter war.
    Yannik befand sich in zweierlei Hinsicht auf unsicherem Terrain. Zum einen waren die neuen Erkenntnisse sehr brisant, zum anderen benötigte er den Rat eines Fachmannes.
    Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
    Gleich neun Uhr.
    Was er herausgefunden hatte, war zu wichtig, um es seinem Chef vorzuenthalten. Er griff zum Telefonhörer.
    „Ja, Yannik hier“, meldete er sich. „Tut mir leid, wenn ich dich um diese Uhrzeit stören muss.“
    „Ist schon okay, was gibt’s denn?“, fragte Martin.
    „Du wirst es nicht glauben, aber Volkmar Dembowski hat einen Zwillingsbruder, Bernhard Dembowski. Und jetzt frage mich bitte nicht, woher ich die Information habe.“
    „Ich kann es mir denken. Wenn das stimmt, ergeben sich vollkommen neue Aspekte. Es könnte sein, dass wir dem Falschen auf der Spur sind. Hast du