Haarmanns Kopf
Trauerzug hatte das Grab erreicht.
Es war ein würdiger Abschied von einem alten Mann. Die letzten verbliebenen Freunde und Verwandten waren gekommen. Ein letztes Mal. Die Träger stellten den Sarg vorsichtig auf den beiden Holzbohlen über dem frisch ausgehobenen Grab ab.
Da stand er nun, der schlichte helle Holzsarg, bestreut mit bunten Blüten und geschmückt mit Hortensien. Links daneben stellte eine junge Frau – vermutlich eine Enkelin – ein Foto des Verstorbenen auf einem kleinen Tisch ab.
Der Pastor erinnerte an die Bescheidenheit und Gutmütigkeit des Dahingeschiedenen. Dass er ein guter und lieber Mensch war, sagte er. Er wusste zu berichten von dem sanften und fröhlichen Herzen, das nun aufgehört hatte zu schlagen, und auch davon, dass dieser liebenswürdige Mensch allen Anwesenden, vor allem seiner Frau, sehr fehlen würde. Dann besprengte er den Sarg mit Weihwasser, drückte der Witwe die Hand und sprach ihr noch einmal sein Mitgefühl aus.
Als sich die kleine Trauerschar langsam auflöste und sich langsam entfernte, ging er noch einmal zum Grab, ordnete die Trauerschleifen der Kränze und verließ dann ebenfalls den Friedhof.
Adieu Miroslav, flüsterte er leise und verabschiedete sich mit einer gehauchten, zärtlichen und kaum wahrnehmbaren Kusshand.
Im Beerdigungsinstitut wartete noch Arbeit auf ihn.
Am Nachmittag kam er zuhause an und bereitete alles Nötige für den Besuch seines Freundes vor. Die Behälter mit Haarmanns Kopf und den Gehirnschnitten hatte er in der Mitte des Tisches in der Werkstatt platziert und mit einem schwarzen Tuch abgedeckt.
Kurz nach 18:00 Uhr erschien sein ersehnter Gast, der darauf bestand, zunächst mit ihm zu reden. Der Bestatter erzählte ihm von seinen Erlebnissen der letzten Tage und von seinen Fortschritten, sich durch sein Handeln aus seiner geistigen Versklavung zu befreien, ganz so, wie es ihm sein Freund, der Psychiater, erklärt hatte.
„Es ist wahr“, sagte dieser. „Freiheit im Geist, Denken, Handeln und Fühlen ist notwendig und wichtig für dich. Um geistige Freiheit zu erreichen, musst du nicht gegen jemanden kämpfen. Du trägst deinen Kampf vielmehr dort aus, wo es um das eigene Anhaften an falsche Vorstellungen geht. Der Ort, an welchem du den Kampf führst, liegt also in dir selbst. Du bist auf dem richtigen Weg. Bald wirst du vollkommen ruhig, still und frei von Hindernissen sein. Vertraue mir.“
„Das tue ich“, sagte er.
Nach einer Weile konnte er seine Nervosität nicht mehr zügeln. Zu lange wartete er nun schon auf den Augenblick, Haarmanns Kopf zu befreien. Der Psychiater, dem nicht verborgen blieb, wie aufgeregt sein Gegenüber war, folgte ihm über die Kellertreppe nach unten in seine Werkstatt.
Der Bestatter entfernte das schwarze Tuch von den Behältern. Seine Augen funkelten vor Freude und sein Gesicht hellte sich auf.
„Für dich ist es jedes Mal aufs Neue eine Offenbarung, diesen Kopf zu sehen und ihm so nah zu sein. Stimmt’s?“, fragte der Psychiater.
„Ja“, hauchte er.
Der Psychiater nahm den Behälter mit dem Haupt vom Tisch und betrachtete ihn genau unter dem hellen Licht der Neonlampe. Er drehte ihn in verschiedene Richtungen und stellte ihn dann wieder auf dem Tisch ab. Er bat um ein Skalpell und schnitt damit vorsichtig eine Ecke im oberen Bereich der durchsichtigen, gelatineartigen Masse heraus.
„Ich bin überrascht, wie fest und haftend diese Masse ist. Vermutlich liegt das an ihrem Alter. Fünfzig Jahre ist eine lange Zeit“, stellte er mit sorgenvollem Gesicht fest. Er löste an der gegenüberliegenden Seite ein weiteres Stück heraus und betrachtete es. „Ich habe die Befürchtung, dass wir die Gesichtshaut und die Haare beschädigen, wenn wir die Masse entfernen.“
„Es muss einen Weg geben“, sagte der Bestatter flehend. „Wir müssen das zusammenfügen, was zusammengehört.“
„Entspann dich“, antwortete der Psychiater und schob den Behälter zur Seite, um sich den Gehirnschnitten zuzuwenden.
Langsam kamen ihm Zweifel, ob es eine gute Idee gewesen war, seinem Patienten zu suggerieren, er müsse die Teile des Gehirns wieder an ihren ursprünglichen Ort bringen. Auf der einen Seite musste er sich eingestehen, dass er die Wirkungskraft seiner Inspiration unterschätzt hatte, auf der anderen Seite stellte er sich die Frage, ob es bei seinen weiteren Plänen irgendeine Relevanz hatte. Für ihn hatte Haarmanns Kopf keine Bedeutung, er war nur Mittel zum Zweck. Ihn interessierten
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