Hab keine Angst, mein Maedchen
aufgerissen. Sanitäter und eine Notärztin stürzten herein. Norbert musste sie, bevor ich das Büro erreicht hatte, benachrichtigt haben. Sie versuchten, Knut zu reanimieren. Nicht lange. Dann gaben sie auf. Stellen Sie sich vor, dieser miese Mensch hat sogar geweint, dicke Tränen vergossen. Die liefen über sein Gesicht, vermischten sich mit dem Blut. Ich habe ihn wieder beschimpft, und er versuchte, mich zu beruhigen, ganz lieb. Dadurch wurde ich immer rasender. Ich beschuldigte und verfluchte ihn vor den Anwesenden als Mörder und habe von den Spinnen erzählt. Sie hörten mir nicht zu. Sie wollten mich alle nur trösten. Als hätte ich nur einen Albtraum gehabt. Norbert hat sich ganz vertraulich an die Notärztin gewendet. Er hat leise gesprochen, aber ich habe jedes Wort gehört.
»Meine Tante war schon länger, nun, wie soll ich sagen, sie hat sich äußerst eigenartig verhalten. Sie hat viel vergessen und, es tut mir leid, das sagen zu müssen, sich haarsträubende Geschichten ausgedacht, um von sich abzulenken. Aber ihr Mann wollte es nicht wahrhaben. Er wollte seine Frau nicht zu einem Demenztest drängen. Deshalb habe ich auch nichts gesagt. Sein plötzlicher Tod muss einen regelrechten Schub bei ihr ausgelöst haben. Wenn man so etwas durch einen Schock bekommen kann, ich kenne mich da nicht aus. Ich bin natürlich bereit, ihre Betreuung zu übernehmen.«
Er hatte die Ärztin treuherzig und völlig niedergeschlagen angesehen. Sie hatte ihm tröstend über den Arm gestrichen. Ihm! Dem Mörder meines Mannes! Sie hatte ihm sofort geglaubt. Sie hat nicht einmal den Versuch unternommen, nach einer der Spinnen zu suchen. Dabei mussten sie sich noch im Zimmer befunden haben.
Die Ärztin war nur auf meine angebliche Psychose konzentriert. Die Sanitäter zückten schon eine Beruhigungsspritze. Ich sah in Norberts kalte Augen und wusste, er würde gewinnen. Ich würde es nicht beweisen können. Eher würde ich in der Psychiatrie landen, und er hätte als mein Betreuer freie Hand. Das erkannte ich in meinem Schmerz glasklar. Seitdem habe ich mich mehr oder weniger tot gestellt. So getan, als wäre ich wirklich altersdement.«
Ich sah sie erschüttert an. Meine Mutter behauptete zwar, dass ich wenig Intuition besaß, aber genau die sagte mir in diesem Augenblick, dass Magdalene die Wahrheit gesagt hatte.
Interview: weiblich, 58 Jahre
Zum Wort ›alt‹ fällt mir als Erstes ›jung‹ ein. Dann Rollstühle, Pflegeheim, Altersflecken. Aber auch Sonnenblumen, Liebe, Partnerschaft und Würde.
Ich mag es nicht, wenn alte Menschen sich dumm stellen. Das hört sich ein bisschen krass an, aber … Es regt mich einfach auf, wenn sie auf hilfsbedürftig machen und damit Aufmerksamkeit einfordern. Hallo! Sieht mich niemand? Ich bin alt und habe verdient, beachtet zu werden! Machen Sie dies und jenes für mich. Einfach so, nur weil sie alt sind.
Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie selbstbewusst sind. Wenn sie fröhlich sind und einem in die Augen sehen können. Wenn sie auf andere Menschen zugehen, weil sie Interesse an ihnen haben. Wenn sie lächeln, auch wenn es mal regnet. Und wenn sie versuchen, noch jemandem eine Freude zu machen, zu helfen, so weit das in ihrer Möglichkeit liegt.
Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich das umfangreichste Familienalbum mitnehmen.
Oh je, wenn ich mich aus der aktuellen Sicht als 86-Jährige sehe, kommt eine ungenießbare Alte zum Vorschein. Störrisch, mehr als jetzt (lacht). Eine, die überkritisch ist und keine Hilfe annimmt. Die sagt: Lasst mich doch alle in Frieden. Ich schaffe das alles noch allein!
Kapitel 15
Magdalene füllte zwei Gläser mit Leitungswasser und reichte mir eins. Ich nahm es wie in Trance entgegen und begann zu trinken. Ganz langsam. Schluck für Schluck. Ich war dermaßen erhitzt, dass ich nicht wagte, die kühle Flüssigkeit gierig in mich hineinzuschütten. Ich hatte die irrationale Befürchtung, mein Kopf könnte von dem Temperatursturz zerspringen.
Magdalenes Geschichte hatte mich tief berührt. Da brauchte ich mir nichts vorzumachen. Ich hatte meine viel gepriesene professionelle Sachebene längst überschritten. In mir brodelte Wut. Am liebsten hätte ich auf der Stelle einen Rachefeldzug gegen diesen Fiesling von Neffen auf die Beine gestellt. Aber mir kam keine einzige brauchbare Idee.
Ich ging in das winzige Badezimmer und füllte unsere Gläser nach. Wasser half immer, wenn der Geist glühte. Meine
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