Hab keine Angst, mein Maedchen
klar, Magdalene war nicht zu einem Mord fähig. Eine Waffe in ihrer Hand war eher eine Gefährdung für sie selbst. Sie bräuchte nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern. Ihr Neffe würde ihre Schwäche nutzen. Er würde Magdalene den Arm umdrehen und die Waffe auf sie richten. Abdrücken. Aus. Er würde vor Notarzt und Polizei etwas von Notwehr faseln. Sein Talent, auf Knopfdruck betroffen zu wirken und sogar heulen zu können, hatte er bereits unter Beweis gestellt. Magdalenes Glaubwürdigkeit stand ohnehin auf dünnem Eis. Seniorendomizil für Demente. Ohne Abmeldung unterwegs. Dieser Norbert dagegen war nicht zu greifen und ein Charmeur. Quatsch! Jeder hatte eine Leiche im Keller. Ich hätte mit Magdalene darüber reden sollen. Vielleicht hatte er Affären laufen oder war spielsüchtig. Wir würden schon etwas finden. Hoffentlich war es dafür nicht zu spät.
Ich stöhnte auf und schaute aus dem Fenster. Nichts, was das Auge erfreuen und mich entspannen könnte. Eine durchgängig öde Gegend. Kein Baum, kein Strauch. Nur hässliche Häuserfronten.
›Sie sprechen wirklich nicht wie eine alte Dame‹, hatte Magdalene zu mir gesagt. Das tröstete mich ein wenig. Egal, wie ich aussehe, ich bin Michelle geblieben. Die Michelle, die ich war. Gestern noch war. Ich erinnerte mich vage, dass meine Mutter mir etwas Ähnliches zum Abschied gesagt hatte. »Michelle, dieser Zauber kann nicht dich verändern, nicht dein Inneres.« Warum hatte ich ihr nur nicht mehr Zeit gegeben und besser zugehört? Weil es einfach eine ungeheuer abgedrehte Geschichte war, die sie mir bei Kaffee und Kuchen aufgetischt hatte. Meine entsetzte Reaktion hätte sie einkalkulieren müssen. Sie behauptete schließlich, mich zu kennen. Sie hätte mir einen Brief schreiben sollen. Den könnte ich jetzt in Ruhe lesen, und in diesem Fall hätte ich sogar ihre unvermeidlichen Ratschläge als Beigabe in Kauf genommen.
Der Koffer! Es musste einen ganz speziellen Grund dafür geben, dass er wieder aufgetaucht war. Schließlich war er mit alten Fotos und Briefen gefüllt. Ich hoffte, Mama war so vorausschauend gewesen, mir einen Hinweis hineinzulegen. So eine Art Schatzkarte, wie ich aus diesem Labyrinth der Zeit-Verrücktheiten wieder herausfinden konnte.
Ich öffnete den Koffer auf dem Bett und setzte mich daneben. Schummelzettel aus der Schule. Die hatte ich nach meinem 15. Geburtstag nicht mehr nötig gehabt. Ich habe wie eine Wahnsinnige gebüffelt und niemanden abschreiben lassen. Die meistgehasste Streberin. Das war ich.
Liebesbriefe von Chris. Die meisten hatte er mir geschrieben, nachdem ich mit ihm Schluss gemacht hatte. Er war wie vor dem Kopf gestoßen gewesen und wollte das abrupte Ende nicht akzeptieren. Kein Wunder. Wie sollte er auch. Er hatte mir lange geschrieben. Ich hatte ihm nicht einmal geantwortet. Irgendwann kam nichts mehr von ihm. Das hatte mir wehgetan. Dabei, wie hätte er anders reagieren sollen? Er musste mich schlichtweg für eine überkandidelte Zicke gehalten haben, die ihn als Entjungferer missbraucht hatte. Ich durchwühlte die Briefe. Es war keiner von meiner Mutter dabei.
Jede Menge Fotos. Ich badete unschlüssig meine Hand darin und zog dann wahllos eines davon heraus.
Mama und Steve. Braun gebrannt. Im Hintergrund eine Dünenlandschaft. Dänemarks Nordseeküste. Mama und Steve lachten fröhlich in die Kamera. Das Foto hatte ich geschossen. Daran konnte ich mich ganz genau erinnern. Steve hatte mir den Fotoapparat vor dem gemeinsamen Urlaub geschenkt. Ich konnte den neuen Mann meiner Mutter trotzdem nicht leiden. Ich war nur deswegen mit in den Urlaub gefahren, um nicht wieder bei Tante Adelheid zu landen.
Mama konnte ich zu der Zeit auch nicht leiden. Was heißt: Ich konnte sie nicht leiden. Ich hatte sie mit dem glühenden Herzen einer Zehnjährigen gehasst. Wie konnte Mama mit einem anderen zusammen sein! Sie hatte einen Mann. Und das war mein Papa. Ich hätte an ihrer Stelle immer auf ihn gewartet, ein ganzes Leben lang.
Er war noch nicht lange tot. Mama hatte nicht einmal ein Jahr um ihn getrauert. Dabei hätte ich ihr so gern beigestanden. Mama und ich. Aber sie hatte sich von mir nicht trösten lassen, sondern so getan, als wäre sie nicht traurig. Sie hat in meiner Gegenwart sogar gelacht. Ein krampfhaftes, unehrliches Lachen. Ich mochte es nicht. Es war unheimlich und nicht lustig, und ich fühlte mich betrogen.
Über ihren Kummer geredet hatte sie nur mit ihrer geliebten, dicken Lilly. Sie zogen
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