Hab und Gier (German Edition)
Jahren hatte ich mein Lager nicht mehr mit einem anderen Menschen geteilt. Völlig überrumpelt fand ich schnell Gefallen an den quicklebendigen Wärmflaschen, wobei Bellablock auch nicht lange fackelte und sich zu meinen Füßen ausstreckte. Es wurde ziemlich eng, klebrig, heiß und urgemütlich.
»Der Papa schnarcht so laut«, sagte Lilli. »Und vielleicht möchtest du uns ja wahnsinnig gern spannende Sachen erzählen…«
»Die andern in unserer Klasse lernen gerade das Einmaleins«, sagte Paul. »Wir wollen keine Dummis sein, weil wir gefehlt haben! Eigentlich bin ich von den Buben der Beste in der Klasse, aber leider sind die Jungs alle schlechter als die Mädchen.«
Wir blieben lange im Bett, dachten uns abwechselnd Schauergeschichten aus und hatten sogar Spaß beim Rechnen. Schließlich brachte ich ihnen noch das Nonsens-Gedicht bei: Dunkel war’s, der Mond schien helle… , das ich in ihrem Alter lustig gefunden hatte. Erst um elf Uhr stellten wir fest, dass Bellablock dringend in den Garten musste, ich nach Kaffee lechzte und die Zwillinge endlich frühstücken sollten. Frau Altmann hatte mir von ihrer Sehnsucht nach Enkelkindern erzählt, mir kamen sie unverhofft durch ein gütiges Schicksal ins Haus; eigentlich wollte ich sie ungern wieder herausrücken.
»Jetzt liegt auch noch der Papa auf der Nase«, klagte Paul nach einem Ausflug ins Erdgeschoss.
»Und unsere Mama liegt in der Klinik«, sagte Lilli. »Zum Glück haben wir die Karla!«
»Echt besser als die Gaga-Oma«, sagte Paul.
Ich brachte dem kranken Cord eine Hühnerbrühe und ließ die Kinder ein paar Rechenaufgaben lösen sowie eine Bildergeschichte malen. Zur Belohnung las ich ihnen vor, kochte Spaghetti zum Mittagessen, ging mit Bella einmal um den Block und fand diesen grauen Tag ganz behaglich. Doch meine märchenhafte Idylle sollte am Abend ein Ende haben.
Mehrmals hatte ich Judith gebeten, ein paar Kinderbücher für Lilli und Paul mitzubringen. Inzwischen bewältigten die beiden schon kurze Texte für das erste Lesealter, aber ich las ihnen immer noch gern vor, und unser Vorrat war inzwischen erschöpft. Wir brauchten Bücher zum Vorlesen und Selberlesen.
Die Zwillinge putzten sich bereits die Zähne, als Judith schlechtgelaunt und spät nach Hause kam und mir das Sachbuch Freiheit zum Leben. Dietrich Bonhoeffer für Jugendliche auf den Tisch knallte, das für unsere Zwecke völlig ungeeignet war.
»Bist du noch ganz dicht?«, fuhr ich sie an. »Das taugt für Abiturienten und nicht für Grundschüler, oder würdest du in der Lesenacht so etwas Ambitioniertes vorlesen? Das Buch wurde wohl gerade zurückgegeben und war das erstbeste, das dir in die Hände fiel!«
»Dann komm doch selbst und reiß dir Grimms Märchen oder anderen Schwachsinn unter den Nagel! Im Übrigen sollten deine Lieblinge spätestens am Wochenende hier verschwinden, sonst gibt es ganz großen Ärger.«
»Du kannst mir nicht befehlen, wen ich in meinem Haus beherberge«, konterte ich. »Wenn es dir nicht passt, kannst du dir eine andere Bleibe suchen!«
Judith verdrehte nur wortlos die Augen und verzog sich in ihr eigenes Reich.
Natürlich erzählte ich dem angeschlagenen, aber aus dem Bett gekrochenen Cord brühwarm von unserem Disput. Er bot an, am nächsten Morgen in der hiesigen Stadtbücherei Lesestoff für seine Sprösslinge zu besorgen.
»Morgen bin ich bestimmt wieder fit, bei mir geht das immer schnell. In Judiths Bibliothek will ich mich lieber nicht blicken lassen«, meinte er. »Seit die Kinder hier wohnen, ist Krieg. Am Ende macht sie mir noch in aller Öffentlichkeit Vorwürfe. Du wirst es nicht glauben, aber Judith hat allen Ernstes verlangt, dass Paul und Lilli in ein Heim kommen. Sie hat sogar gedroht, das Jugendamt einzuschalten!«
»Wieso denn das? Die beiden haben es doch gut bei uns und fühlen sich wohl! Sie haben noch kein einziges Mal nach ihrer Mutter verlangt.«
»Judith droht, sie werde mich anzeigen, ihr werde schon etwas einfallen – Verwahrlosung, Kindesmissbrauch oder etwas in dieser Richtung. Eine bodenlose Gemeinheit«, seufzte er.
Auch ich war empört. Zwar hörte man in den letzten Jahren immer häufiger von unauffälligen Biedermännern, die sich an ihren Kindern vergriffen, aber die Kehrseite gab es auch: Mütter, die ihre Exmänner aus Rache beschuldigten und den Vater ihrer Kinder am liebsten hinter Gittern sahen.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Judith noch einmal herunterkommen würde. Sie suchte im
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