Hab und Gier (German Edition)
dem Nachttisch zu Boden fallen lassen. Mir fuhr der Schreck so gewaltig in die Glieder, dass ich mich erst einmal festhalten musste. Meine zweite Reaktion war: Schnell weg hier! Mit letzter Kraft ergriff ich die verräterische Weinflasche, dann fiel ich fast die Treppen hinunter, stolperte in die Küche und sackte dort auf dem nächstbesten Stuhl zusammen. Zu allem Überfluss begann Bella zu heulen, so schaurig, wie es in Büchern nur Wölfe taten. Witterte sie den Tod? Erkannte sie mich als Mörderin? Oder war Judith vielleicht nur ohnmächtig geworden, und ich hatte – wie Wolfram – den Versuch einer Rettung unterlassen? Sollte ich noch einmal hinaufgehen? Bleib, wo du bist, und rühr dich nicht , schoss es mir durch den Kopf, gleich würde Cord ja zurückkommen. Er sollte die Bewusstlose oder Tote finden, ich wollte nichts mehr damit zu tun haben.
Es dauerte tatsächlich nicht allzu lange, da stürmten die Kinder herein, fühlten wohl intuitiv, dass ich völlig durcheinander war, und umarmten mich tollpatschig.
»Ist was?«, fragte Cord.
»Vielleicht werde ich auch krank… – Wie geht es Natalie?«
Es gehe ihr besser, aber sie sei noch lange nicht über den Berg. Zum Glück müsse sie nicht mehr künstlich ernährt werden, so dass man sie demnächst in das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit überweisen könne.
»Und Judith?«, fragte Lilli.
Ich zuckte mit den Achseln und setzte Wasser auf. »Kräutertee, Roibusch, Kaffee oder Kakao?«, fragte ich mechanisch, und jeder wollte etwas anderes.
Später fuhr ich sogar zum Supermarkt, entsorgte die leere Weinflasche im Container und kaufte kurz vor Ladenschluss fürs Abendessen ein, wobei ich allerdings beim Ausparken um ein Haar einen anderen Wagen gerammt hätte. Ich war viel zu erschöpft, um noch richtig zu kochen, also gab es bloß Salat und eine Fertigpizza, die meine kleinen Gäste ja sowieso bevorzugten. Danach wünschten wir uns gegenseitig einen schönen Abend und trennten uns. Ich blieb vor dem eingeschalteten Fernseher sitzen und versuchte vergeblich, mich abzulenken.
Irgendwann zu später Stunde klopfte Cord an meine Wohnzimmertür.
»Sorry«, sagte er. »Hast du mal nach Judith gesehen? Wenn sie nun wirklich krank geworden ist… Vielleicht sollten wir zusammen mal raufgehen!«
»Heute nicht mehr«, antwortete ich. »Morgen ist auch noch ein Tag.«
24
Happy End
Aus alter Gewohnheit war das Wochenende immer noch etwas Besonderes für mich, obwohl es für Rentner eigentlich keine große Rolle spielt, ob Wochen- oder Feiertag ist. Ich trank den ersten Kaffee nicht so früh wie üblich, erlaubte mir, in Gesellschaft der Weinheimer Nachrichten eine Stunde länger im Bett zu bleiben und den Tag geruhsam angehen zu lassen. An diesem Samstag wurde ich sehr früh wach, mir graute vor den nächsten Stunden. Doch nach meiner bewährten Methode versuchte ich trotzdem, erst mal Zeit zu schinden.
Nach einem äußerst späten Frühstück mit Cord und den Kindern war kein Aufschub mehr möglich. Paul und Lilli waren mit einem Computerspiel beschäftigt, Cord und ich gingen langsam die Mansardentreppe hinauf. Ich versuchte verzweifelt, mich ahnungslos zu stellen.
Auch Cord sah mit einem Blick, was Sache war. Dennoch tastete er nach Judiths Puls und schüttelte sie sogar ein wenig, als könne er sie dadurch wieder zum Leben erwecken.
Schwer atmend stand ich daneben.
»Ich glaube, da ist nichts mehr zu machen«, sagte Cord, ging ans Fenster, drehte mir den Rücken zu und blieb wie versteinert stehen. Offenbar kämpfte er mit heftigen Emotionen. Erst nach einigen Minuten hatte er sich gefangen und bombardierte mich mit Fragen: »Verstehst du das? Anscheinend kriege ich irgendwas nicht gebacken! Sie war selten krank, hatte nur hin und wieder einen Hexenschuss, aber davon stirbt man nicht. Was ist passiert? Ein Herzinfarkt? Wahrscheinlich ist sie schon eine ganze Weile tot. Wann haben wir sie eigentlich zuletzt gesehen?«
»Das war am Donnerstagabend, sie hatte ziemlich viel getrunken«, sagte ich mit dünner Stimme. »Als sie die Küche verließ, konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten.«
»So etwas kommt bei ihr vor, aber davon stirbt man nicht«, meinte Cord.
»Vielleicht hat sie sich das Leben genommen«, schlug ich kleinlaut vor, aber er schüttelte vehement den Kopf.
»Judith doch nicht! Aber es hilft alles nichts, wir müssen jetzt einen Arzt rufen…«
Ich nickte gottergeben und hob den Bademantel auf. Das rote Fläschchen fiel
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