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Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Titel: Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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schwankender und beweglicher, als öffentlich zum Ausdruck kam. Darüber wird noch zu reden sein. Die großen öffentlichen Auftritte Hitlers, die sorgfältig inszenierten Massenversammlungen, Aufmärsche und Jubelszenen waren teilweise gerade dazu bestimmt, das nicht ins Bewußtsein treten zu lassen. Die Massenmobilisierung diente nicht zuletzt der Massensuggestion. Sie suggerierte eine Vorstellung unwiderstehlicher begeisterter Dauereinigkeit, sollte sie suggerieren– und hatte Erfolg damit. Die Suggestion hält heute noch vor. Auf praktisch all den alten Filmsequenzen, auf die das Fernsehen heute noch in historischen Sendungen zurückgreift– es gibt ja keine anderen–, sieht man Hitler umgeben von unabsehbaren begeisterten Massen, und ihr Jubelschrei begleitet ihn, wo immer er sich zeigt, wie ein Wagnerisches Leitmotiv. Wer kann da zweifeln, daß das ganze Volk die ganze Zeit wie ein Mann hinter seinem Führer stand?
    Gerade über diese Massen- und Jubelszenen erfahren wir nun aus Kempowskis Umfrage viel ernüchternd Komisch-Wirkliches. Die meisten, die Hitler gesehen haben, sahen ihn ja als Statisten bei einem dieser immer wiederholten grandiosen Weihefestspiele, die in dem Auftritt des Führers gipfelten. Oft waren sie einfach hinkommandiert, ganze Hitlerjugend- oder Arbeitsdienstabteilungen, auch Schulen oder Betriebe, und das Erlebnis im ganzen hat, auch in der Erinnerung für die Beteiligten, oft wenig Erhebendes– die langen Anmärsche, die langen Wartezeiten, die fehlenden Toiletten, die Langeweile, die man bekämpfte, indem man schon vorher vorwitzig-unzeitigen Jubel probte– etwa für einen vorbeikommenden Radfahrer–, auch die gewisse Leere und Enttäuschung, wenn nachher der große Augenblick so schnell vorbei– und eigentlich nichts gewesen– war: Hier kommt das alles in all seinen Abtönungen wieder herauf, und man erkennt es wieder, natürlich, so war das, so ist so etwas. Aber gejubelt wurde natürlich doch, und kräftig, wenn es soweit war, dazu war man ja gekommen, und nun wollte man doch auch etwas getan und etwas davon gehabt haben. So entstand dann das Bild, das heute noch vorhält. Am bezeichnendsten finde ich die Geschichte der heute fünfzigjährigen Dozentin aus der Antinazifamilie, die als Kind auf die Straße ging, als es hieß, Hitler komme vorbei ( » Man muß ihn doch mal sehen«), und die dann, weil zufällig verhältnismäßig wenige Menschen da waren und die Heilrufe so dünn klangen, unwillkürlich fühlte, sie müßte nun doch mitschreien, um etwas zum Gelingen der Szene beizutragen, und sich dann wieder sagte: » Aber das kannst du doch nicht, wir sind ja nicht für Hitler.« Sie sagt nicht, ob sie schließlich » Heil« geschrien hat oder nicht, vielleicht weiß sie’s selbst nicht mehr genau. » Vielleicht fand ich’s doch ein bißchen faszinierend damals, das ist schwer zu sagen.« Köstlich– und so wahr! Natürlich, die meisten Leute hatten weniger Hemmungen. Die meisten Leute waren in den mittleren dreißiger Jahren zweifellos » für Hitler«– was immer das nun genau bedeuten mochte.
    Richtige Nazis waren sie deswegen noch lange nicht. Die waren, genau wie die wirklichen Antinazis, immer eine Minderheit, und in den Jahren, als die meisten Leute » für Hitler« waren, waren gerade von den eigentlichen Nazis gar nicht so wenige schon wieder aus irgendwelchen Gründen » gegen Hitler«– verkracht, enttäuscht oder sogar, auch das gab es, bekehrt. Die Urnazis, die » alten Kämpfer«, spielten ja in den Jahren der Macht und der Popularität eine eher bemitleidenswerte Rolle; die wenigsten hatten es zu etwas gebracht, viele hatten sich alles ganz anders vorgestellt, und es gab unter ihnen sogar schließlich eine Art Fronde, die freilich im Effekt ebenso frustriert und ergebnislos blieb wie die meisten anderen Widerstandsansätze. Es ist eine Tatsache, daß die Qualität der Hitlerbegeisterung schon wieder im Absinken war, als ihre Quantität den höchsten Pegelstand erreicht hatte– also etwa im Jahre 1938. Man darf auch nicht glauben, daß die breite Begeisterung für Hitler Begeisterung für die Nazis gewesen wäre. Die Nazis waren und blieben eigentlich immer unpopulär– die Rabauken der Frühzeit genauso wie die » Goldfasane« der Machtjahre. » Wenn das der Führer wüßte« war in den dreißiger Jahren ein geflügeltes Wort, und einiges davon schwingt noch in den Aussagen dieses Buches nach. Hitlers Erfolg bei den deutschen Massen war sein

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