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Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Titel: Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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persönlicher Erfolg; nicht der seiner Partei, seines Programms oder seiner » Weltanschauung«. Das erklärt zum Teil, warum dieser Erfolg so wenig vorgehalten hat; nachdem Hitler gescheitert und tot war, war nichts mehr da, woran sich die Gefühle, die er entfesselt hatte, halten konnten. Aber daß diese Gefühle nicht einmal als Erinnerung das geblieben sind, was sie einmal waren, daß den Entzauberten nachträglich alles so unwirklich und unbegreiflich geworden ist, das verlangt doch noch eine andere Erklärung. Dazu ist es notwendig, sich diese Gefühle selbst etwas genauer anzusehen.
    Sie waren nämlich nicht die gleichen bei allen Anhängergruppen und nicht die gleichen zu allen Zeiten. Die » alten Kämpfer«, die in den zwanziger Jahren zu Hitler stießen, waren andere Typen und hatten andere Motive als die kleinbürgerlichen Massen, die ihm zwischen 1930 und 1932 zufielen. Diese wieder verwahrten sich mit Recht dagegen, mit den » Märzgefallenen« von 1933 in einen Topf geworfen zu werden. Und auch zwischen diesen Opportunisten und den noch späteren Hitleranhängern muß man unterscheiden– den Spät- und Halbbekehrten der dreißiger Jahre, die das Bild eines einigen Volkes von Hitler-Deutschen erst vollständig machten. Und daß dieses Bild dann auch die Kriegsjahre hindurch nur wenig angekratzt erschien, hatte wieder andere Gründe. Es lohnt sich, das alles ein bißchen auseinanderzusortieren; es hilft vielleicht, den noch so gut wie gar nicht analysierten Umkehrungsprozeß zu erklären– den unerwarteten totalen Zerfall des Hitlermythos nach 1945, der ja auch nicht mit einem Schlage, sondern in mehreren Sehüben erfolgte.
    Ein paar statistische Daten zunächst, die den heute Jüngeren kaum mehr geläufig, aber immer noch staunenswert sind. Bekanntlich hat Hitler bei freien Wahlen nie eine Mehrheit der Stimmen bekommen. Selbst am 5. März 1933, als er schon Reichskanzler und der Wahlkampf seiner Gegner schon terroristisch behindert war, reichte es nur zu 43,9 Prozent für die NSDAP – ein Ergebnis, das seither in der Bundesrepublik sowohl von der CDU wie von der SPD mehrfach übertroffen worden ist. Immerhin hatte Hitler in nur drei Jahren, von 1930 bis 33, seine Anhängerzahl verzehnfacht: Vorher, in den zwanziger Jahren, als es ihn ja auch schon gab, war er nie auch nur an fünf Prozent herangekommen. Und kein Zweifel ist, daß sich nach 1933, in den Jahren der Macht, die Zahl der Anhänger mindestens noch einmal verdoppelt hat, auch wenn man die 99-Prozent-Plebiszite der Jahre 1936 bis 1938 nicht für bare Münze nimmt. Nach 1945 gab es dann plötzlich so gut wie keine Hitleranhänger mehr– wenn man von der kleinen NPD -Welle in den späten sechziger Jahren absieht, die ja immerhin bei den Bundestagswahlen von 1969 auf 4,5 Prozent kam und bei manchen Landtagswahlen noch höher, also wieder ungefähr den Hitleranhang der zwanziger Jahre reproduzierte.
    Diese Fieberkurve ist zweifellos anomal und will erklärt sein. Dabei ist es leicht, in den rund fünf Prozent NPD -Wählern der sechziger Jahre die rund fünf Prozent Hitler-Wähler der zwanziger Jahre wiederzuerkennen. Sie stellen einfach das faschistische Dauerpotential dar, das, manchmal offener, manchmal mehr latent, zu allen Zeiten vorhanden ist, übrigens nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in den meisten anderen Ländern. Zeitweise, zum Beispiel bei den Bundestagswahlen von 1972 oder auch bei den Reichstagswahlen von 1928, wird es von anderen, größeren Rechtsparteien gebunden und tritt kaum in Erscheinung! Zu anderen Zeiten, etwa bei den Bundestagswahlen von 1969 oder den Reichstagswahlen vom Mai 1924, tritt es offener zutage. So oder so ist es ein Dauerbestandteil des öffentlichen Lebens, aber normalerweise bleibt es eine Randerscheinung.
    Die sechs Millionen plötzliche Hitlerwähler von 1930, die 13 Millionen von 1932 und die 17 Millionen vom März 1933 waren natürlich keine Randerscheinung– sie repräsentierten ganze Gesellschaftsgruppen, die man normalerweise nicht als faschistisches Potential bezeichnen kann: die Bauern vor allen Dingen, die 1932 bereits fast wie ein Mann Hitler wählten, aber auch große Teile der städtischen oder gewerblichen Mittelschichten, der Angestellten, der Studenten und des damals zahlreichen akademischen Proletariats. Etwas pauschal kann man sagen, daß damals ein bedrohtes und verängstigtes, wirtschaftlich ruiniertes mittleres Bürgertum Hitler zulief. Noch nicht die Arbeiterschaft: Sie

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