Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
ehrliche. Denn wenn man die Leute auf den Kopf zu nach ihrer Meinung über Hitler fragt– der damaligen und der jetzigen–, wird wohl auch heute immer noch ziemlich viel geschwindelt. Kempowskis listige Indirektheit ist da viel ergiebiger.
Eine statistische Grenze ist durch die Art seiner Fragestellung immerhin mit aller wünschenswerten Schärfe gezogen worden, und die muß man erst einmal festhalten. Seine jüngsten Auskunftspersonen gehören den Jahrgängen 1936 oder 37 an, und ihre Antworten sind bereits ganz kurz, negativ und unbeteiligt. Hitler war von etwa 1942 an unsichtbar geworden, und wer heute jünger als 35 ist, kann ihn nicht mehr gesehen haben. Für Kempowskis Befragung fällt damit die jüngere– und bereits zahlreichere– Generation heute lebender Deutscher aus, und das ist, wie mir scheint, völlig in Ordnung. Denn die Frage nach Hitler ist in Deutschland eine Generationsfrage. Für die Jüngeren ist sie nicht die Frage ihres Verhältnisses zu Hitler, sondern höchstens eine Frage ihres Verhältnisses zu ihren Eltern; allenfalls die Frage: » Wie konntet ihr?« Niemals die Frage: » Wie konnte ich?«
Schuldgefühle kann man von diesen jüngeren Deutschen billigerweise nicht erwarten. Sie sind Hitler nie verfallen und nie von ihm abgefallen. Sie haben sich mit Hitler persönlich nicht auseinanderzusetzen, sie kennen ihn nicht, haben ihn nie gekannt und wollen ihn auch nicht kennen. Wenn man sie deswegen, weil sie ja doch nun einmal Deutsche sind, mit Hitler in irgendeine Verbindung bringt, blicken sie meist verständnislos und ein wenig beleidigt. Mit Recht, mit Recht; es stimmt ja, sie sind nicht schuld an Hitler; man kann sie nicht für ihn haftbar machen; selbstverständlich nicht. Es ist ja auch nur gut, daß sie es so haben wollen und daß es unter den jüngeren Deutschen so gar keine Hitlertradition oder Hitlerlegende gibt. Wir wären sehr beunruhigt, wenn es anders wäre.
Und doch ist es ein merkwürdiges Phänomen, und man täte vielleicht gut, sich einen Augenblick darüber zu wundern. So selbstverständlich, wie die jungen Deutschen denken, ist es nämlich nicht. Als Napoleon (der ja auch gescheitert war) ungefähr so lange tot war wie Hitler jetzt, war in Frankreich die Napoleonrenaissance in vollem Gange; auch und gerade bei der jüngeren Generation, die ihn nicht mehr miterlebt hatte; gerade hatte man seinen Leichnam zurückgeholt und mit Pomp und Gloria im Invalidendom beigesetzt, und ein paar Jahre später regierte in Frankreich wieder ein Napoleon. Nun gut, Napoleon hatte kein Auschwitz an seinem Namen kleben, und er hatte auch Frankreich nicht in ganz so ruiniertem und desolatem Zustand hinterlassen wie Hitler Deutschland. Aber wenn man schon aus Hitlers schauderhafter moralischer und faktischer Hinterlassenschaft erklären kann, daß es keine Pro-Hitler-Tradition gibt– wie erklärt man das ebenso unleugbare Fehlen einer Anti-Hitler-Tradition?
Natürlich, wir wissen es, nach 1945 wollte niemand ein Nazi gewesen sein. Aber auch ein Antinazi– einige hatte es ja immerhin gegeben– wollte so recht niemand mehr gewesen sein, von den Emigranten sind wenige zurückgekehrt, und die deutsche Exilliteratur hat ebensowenig Tradition gemacht wie die Naziliteratur. Es ist schon so: Die Generation, die Hitler erlebt hat– ganz egal, wie sie ihn erlebt hat–, hat nachher von diesem Erlebnis nicht mehr sprechen mögen. Sie hat nichts davon an ihre Kinder weitergegeben, und insofern ist die blanke Ignoranz und Uninteressiertheit der Jüngeren das Werk der Älteren. Die deutsche Generation, die Hitler aufgesessen war, hat dafür gesorgt, daß die Erinnerung daran– und also auch die Erinnerung an ihn– abgestorben ist. Sie hat vergessen und vergessen machen wollen. Und die Folge ist, daß die ganze Epoche ausgeklammert und gewissermaßen abgestorben bleibt; man spricht nicht mehr von ihr; man mag nicht mehr an sie denken. Hitler selbst wird nicht mehr studiert und diskutiert. Sein bloßer Name ist eine Art Leerformel geworden, ein Kinderschreck und Popanz.
Das ist ja soweit ganz schön und gut. Besser, als wenn man ihn heroisierte und glorifizierte und nur daran dächte, wie man wieder an ihn anknüpfen könnte, ist es allemal. Ehe man auf die Deutschen nun wieder einprügelt wegen ihrer » Unfähigkeit zu trauern«– um Hitler zu trauern–, sollte man froh sein, daß sie sich in aller Stille so vollständig von ihm abgesetzt– meinetwegen: ihn verleugnet oder » verdrängt«–
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