Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
haben. Aber wundern darf man sich schon darüber. Mindestens macht es neugierig, was da eigentlich in den Deutschen der Hitlergeneration vorgegangen ist. Denn vorgegangen muß doch irgend etwas sein. Es passiert doch nicht alle Tage, daß ein Volk sich so rückhaltlos einem Mann in die Arme wirft und dann hinterher so entschlossen nichts mehr von ihm wissen will– in beiden Bedeutungen dieses Ausdrucks. Was ist da passiert, wie ist das zugegangen? Die Deutschen und Hitler– dieses » und« enthält immer noch ein ungelöstes Rätsel.
Wenn man es lösen will, muß man es, scheint mir, vom Ende her aufdröseln, also von der heutigen Abkehr und Ablehnung her. Denn die wirft ein Licht zurück auch auf die Qualität der einstigen Verfallenheit und Begeisterung, während sich vom Damaligen das Heutige schwer erklären läßt. Und da scheint mir Kempowskis Methode ein Treffer zu sein. Denn sie zwingt die Leute, auf zwei Zeitebenen zu reden: Sie erzählen vom Damals, aber im Ton des Heute.
Dabei fällt zweierlei auf. Das erste ist, daß sich die ehemaligen Nazis und die ehemaligen Nazigegner heute kaum unterscheiden. Sie sprechen alle mit derselben sozusagen kopfschüttelnden Geste– ungefähr wie man einen Traum erzählt. » Gottes willen, daß man das alles so vergißt.« » Das glaubt ja heute kein Mensch mehr.« » Na ja, mein Gott, man hat uns das so vorgemacht.« Sind das Nazis oder Antinazis, die da sprechen? Man kann es nicht mehr so recht unterscheiden. Einer fällt im Erinnern noch wie von selbst in die alte Sprechweise zurück, man denkt: Endlich ein richtiger Nazi, einer, der es geblieben ist. Und dann kommt plötzlich: » Pipapo.« Bei denen, die mitgemacht haben: keine Trauer, keine Reue, auch kein Stolz, kein Trotz; bei denen, die dagegen waren: keine Entrüstung, kein Zorn, kein Eifern mehr, keine Genugtuung. Das ist alles wie weggestorben, und die Generationsgenossenschaft verbindet heute mehr, als die einstige Feindschaft noch trennt. Wir haben, wir Älteren, schließlich alle Hitler irgendwie in unserm Leben gehabt– die Antis vielleicht noch stärker, noch schärfer als die Pros–, er war für uns ein Erlebnis, und zwar ein Jugenderlebnis. Die Nazizeit, das vergißt man so leicht, war nicht nur die Nazizeit; sie war auch unsere Jugend, und an seine Jugend denkt nun einmal jeder mit einer gewissen Wehmut– auch mit Bedauern, auch mit Kopfschütteln: Gott, war man damals dumm; aber auch: Gott, war das Leben damals schön und aufregend; und: Na ja, das kommt nicht wieder… So werden die heutigen jungen Linken (und die Minderheit der Jungen, die nicht mitmacht) eines Tages an ihre Jugend denken, wenn es alles nicht mehr wahr ist.
Das zweite, was bei den persönlichen Erinnerungen an Hitler ins Auge springt, ist noch wichtiger. Es ist dies, daß Hitlers Auftritte ja für alle, die nicht zu seiner engsten Umgebung gehörten, Episoden waren– unvergeßliche Episoden, aber eben doch nur Episoden. Und so der ganze Hitler: Jeder hatte ihn damals irgendwie in seinem Leben, aber er war natürlich nicht das ganze Leben. Man dachte nicht die ganze Zeit an ihn, sei es nun in Begeisterung oder in Haß– weit gefehlt. Die meiste Zeit hatte man an ganz anderes zu denken, und das Private war auch damals wie zu jeder Zeit für die meisten Menschen weit wichtiger und weit realer als das Öffentliche. Das ist eigentlich selbstverständlich, und es überhaupt auszusprechen scheint banal. Es wird aber so sehr leicht vergessen. Man hat unwillkürlich immer ein Bild vor Augen, als sei zwölf Jahre lang das ganze Volk in nie endendem Massenrausch ekstatisch um seinen Führer geschart gewesen– ein Bild übrigens, das Hitler selbst, großer Massenregisseur, der er war, mit Eifer und Vorbedacht komponiert hat.
Es ist aber ein trügerisches Bild, und das nicht nur, weil es immer auch ein paar Millionen gab, die nicht jubelten, sondern sich fernhielten, litten und haßten. Auch die Jubler jubelten nicht die ganze Zeit, sondern vielleicht ein-, zweimal im Jahr, oder auch nur alle paar Jahre. Dazwischen hatten sie anderes zu tun. Die Nazis waren nicht die ganze Zeit damit beschäftigt, Nazis zu sein; und die Antinazis nicht die ganze Zeit damit, Hitler zu hassen. Politik war auch damals nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des wirklichen Lebens der Menschen, und der Nazismus saß viel lockerer und oberflächlicher im Erdreich der deutschen Wirklichkeit, als er wahrhaben wollte; auch die Gesinnungen waren differenzierter,
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