Habiru
ihn zu sich heran und küsste ihn wieder. Es war schön, ihn einfach so im Arm zu halten.
Für kurze Zeit hatte sie wirklich all ihre Sorgen hinter sich gelassen.
8: Auf der Suche
Sie war nun schon bald einen ganzen Mond in Schenas Welt, ohne einmal wieder zu Hause aufgewacht zu sein. So langsam glaubte sie, nie wieder nach Hause zurückzukehren, sondern für immer hier gefangen zu sein. Die Stadtmauer hatte schon deutliche Fortschritte gemacht, fast überall war sie schon fertig. Sie erinnerte ständig daran, wie lange sie nun schon hier war. Obwohl jeder Tag abwechslungsreich und erfüllt war, fühlte sie sich dennoch deplaziert. Sie vermisste Mama und Papa. Und ihre Schule. Und dann geschah auch noch etwas furchtbares: Sie waren auf der Suche nach Schena. Sie war mittags das letzte Mal gesehen worden, und nun war es schon bald dunkel - eigentlich wollte sie nur schnell in den Wald, ein paar Kräuter für das Abendessen holen. Man vermutete, dass die Habiru immer noch in Eridu weilten, und noch gab es keine Warnung, sich außerhalb der Mauern aufzuhalten. Schon vor dem Abendessen war Inanna nervös geworden, weil Schena nicht wiederkam.
Sarah half bei den Vorbereitungen für das Essen, so richtig voran kamen sie aber nicht, die Sorgen fraßen an ihnen.
Inanna sagte: »Das ist überhaupt nicht ihre Art. Ich befürchte, ihr könnte etwas zugestoßen sein.«
Sarah zog sich der Magen zusammen. »Was kann ihr denn passiert sein?« »Nun, im Wald lauern immer Gefahren, da gibt es wilde Tiere, auch ein Unfall ist möglich. Vielleicht hat sie sich das Bein gebrochen oder so etwas. Oder ...« Inanna stockte, sie war kalkweiß geworden.
»Oder was?« Bohrte Sarah nach.
Was konnte Schena dazu bringen, nicht heimzukommen? Was könnte nur passiert sein? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger plausible Gründe fielen ihr ein.
»Oder die Habiru sind schon näher, als wir dachten!«
Bisher nahmen sie an, dass die Beute in Eridu die Habiru gesättigt und aufgehalten hatte. Nur wissen konnten sie es nicht. Sarah hatte Angst. Fast panikartige Angst sogar. In ihrer Fantasie jagte eine schlimme Vorstellung die nächste, eine schrecklicher als die andere. Sie ließ den Löffel fallen, mit denen sie gerade die Suppe umrührte. Inanna schien das gar nicht zu bemerken, so sehr war sie in Sorge - und Trost oder Aufmunterung war von ihr nicht zu erwarten.
Ob die Habiru wirklich schon in der Nähe waren? Und warum dann im Nordosten? Sie wären doch eher im Süden zu erwarten.
Sie erinnerte sich an den schrecklichen Augenblick, als Enki Nestas den Kopf abschlug und damit das allgemeine Gemetzel an den Bewohnern Eridus einleitete. Ihr wurde übel. Auch Arneks toter Körper war ihr sofort wieder in den Kopf gekommen.
Warum nur? Warum all dieses Leid?
Sie verfluchte die Habiru. Seit diese in Schenas Welt aufgetaucht waren, nahm
das Unglück seinen Lauf. Aber all ihr fluchen half genauso wenig wie das bloße Hoffen auf eine unversehrte Rückkehr Schenas. Sie mussten etwas unternehmen, still rumsitzen und warten würde überhaupt nichts bringen.
»Wir müssen sie suchen, Inanna. Je eher desto besser. Noch ist es hell. Wir wissen ja nicht, ob ihr nicht doch etwas passiert sein könnte. Vielleicht liegt sie irgendwo hilflos und verletzt im Wald.«
»Jetzt mache dich bitte nicht verrückt. Es wird schon alles in Ordnung sein und Schena wird jeden Moment wieder da sein.«
So richtig zu glauben schien sie das aber selbst nicht. Es war mehr wie eine Litanei, die sie selbst beruhigen sollte.
»Aber wir müssen etwas unternehmen, wenn sie nicht wiederkommt.«
»Das sehe ich ja auch so, warten wir noch bis zum Abendessen, vielleicht ist sie bis dahin wieder da.«
Inanna weiter zu bedrängen war wenig erfolgversprechend, und vielleicht war sie bis dahin wirklich zurück. Also betete sie, denn ein Gebet konnte bestimmt nicht schaden, und das war das einzige, was ihr im Moment blieb.
Aber auch beim Abendessen war Schena noch nicht da und der Rest der Sippe erfuhr erst dort, dass ein Familienmitglied vermisst wurde. Die Stimmung war gedämpft und gedrückt, sie waren mit ihren Gedanken bei Schena und überlegten, was ihr wohl passiert sein könnte. Aber alle waren sich einig, dass man sie suchen musste, vor allem, solange es noch hell war.
Es wurde gegen halb neun dunkel, das bedeutete noch fast drei Stunden Helligkeit. So beschlossen sie, einen Suchtrupp aufzustellen. Da Schena in den Wald wollte, um ihre Kräuter zu sammeln,
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