Hades
humpelnd die Suite. Als er meine Aufmachung sah, verdüsterte sich sein Gesicht.
«Es ist also wahr», sagte er leise. «Bist du sicher, dass du weißt, was du tust?»
«Ich habe keine Wahl, Tuck», antwortete ich.
«Beth», sagte er und setzte sich zögernd auf die Bettkante. «Ich weiß, dass für dich gerade alles ganz dunkel aussieht … aber ich habe dich noch nie so sehr bewundert wie in diesem Moment.»
«Wieso das denn?», fragte ich. «Wenn du mich fragst, gibt es da nicht viel zu bewundern.»
«Doch», sagte Tucker. «Du kannst es vielleicht gerade nicht erkennen, aber du bist sehr stark. Als Jake dich hierherbrachte, hat niemand geglaubt, dass du länger als einen Tag durchhältst. Aber du bist härter im Nehmen, als du aussiehst. Trotz allem, was du gesehen hast, trotz allem, was sie mit dir gemacht haben, hast du noch immer Vertrauen.»
«Aber ich lasse Jake gewinnen», sagte ich. «Ich gebe ihm, was er will.»
«Nein», sagte Tuck heiser. «Wenn du dich ihm hingibst, heißt das, dass du … dich selbst nicht an die erste Stelle stellst. Du schenkst etwas sehr Kostbares her, ja, aber Jake weiß, dass du das nur aus Liebe zu einem anderen tust. Du hasst ihn mehr als alles auf der Welt, und trotzdem gibst du dich ihm hin – nur um jemanden zu schützen, den du liebst. Dieser Gedanke wird ihn kaputtmachen.»
«Danke, Tuck.» Ich legte die Arme um ihn und verbarg mein Gesicht an seinem Hals, der nach warmem Heu roch. «So habe ich das noch nicht gesehen.»
Als ich mein Spiegelbild betrachtete, sagte ich mir, dass Tucker vielleicht recht hatte. Vielleicht sollte ich das Ganze nicht länger als einen Akt der Untreue ansehen, sondern vielmehr als einen Akt der Liebe.
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32
Michaels Schwert
Mir blieben noch ein paar Minuten, bis es Zeit war zu gehen. Hanna und Tuck begriffen, dass ich einen Moment für mich alleine brauchte, und ließen mich allein. Sie hatten kaum die Tür geschlossen, als ich schon zu projizieren begann. Ich wollte Xavier noch ein einziges Mal besuchen, wollte, dass sein Gesicht das Letzte war, das ich sah, bevor ich einen so kostbaren Teil von mir selbst weggab. Wenn ich die Erinnerung an ihn in meinem Kopf bewahren konnte, würde ich in der Lage sein, alles durchzustehen.
Meine Familie war bereits in Alabama angekommen, was mich überraschte, auch wenn es bis dorthin nur zwei Stunden Fahrt waren. Auf den ersten Blick schien Broken Hill eine ebenso verschlafene Kleinstadt zu sein wie Venus Cove. Der Bahnhof war nicht mehr in Betrieb. Die Holzbänke, die die Backsteinwand säumten, lagen voller Müll, und der altmodische Fahrkartenschalter war unbesetzt. Zwischen den Gleisschwellen spross Unkraut, in dem Krähen herumpickten und den trockenen Boden absuchten. Ich konnte mir vorstellen, dass dies früher ein schmucker Bahnhof voller Leben gewesen war. Doch seit dem Unglück, das so viele Opfer gekostet hatte, mieden die Anwohner ihn vermutlich, sodass er jetzt nur noch ein schäbiger Schatten seiner selbst war.
Der Chevy hielt neben den verrosteten Gleisen an, und meine Familie stieg aus. Ivy schnüffelte, und ich fragte mich, ob wohl Schwefel in der Luft lag, wenn das Portal so nah war.
«Dieser Ort jagt mir Angst ein», sagte Molly, die noch im Auto saß.
«Bleib, wo du bist», ordnete Gabriel an, und dieses Mal erwiderte sie nichts.
«Und jetzt?», fragte Xavier. «Habt ihr eine Ahnung, wonach wir suchen?»
«Es könnte jede mögliche Form haben», sagte Gabriel, bückte sich und hielt seine rechte Hand über die Erde. «Aber ich glaube, dass es irgendwo unter den Gleisen ist.»
«Wie kommen Sie darauf?»
«Über einem Höllenportal ist die Erde immer heißer.»
«Das macht Sinn.» Xavier seufzte. «Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wie man es öffnet.»
«Das ist genau das Problem», sagte Ivy. «Dafür reichen unsere Kräfte nicht aus. Wir brauchen Unterstützung.»
«Verdammt noch mal!» Xavier stampfte mit dem Fuß auf, dass die Kieselsteine aufflogen. «Was machen wir dann hier?»
«Michael hätte uns nicht sinnlos durch die Gegend geschickt», murmelte Ivy. «Es muss etwas geben, das wir tun können.»
«Oder er ist einfach ein Trottel.»
«In der Tat», sagte plötzlich wie aus dem Nichts eine Stimme hinter ihnen.
Alle wirbelten herum und sahen gerade noch rechtzeitig, wie sich der Erzengel vor ihnen materialisierte und in voller Größe über den Gleisen aufbaute. Er sah genauso aus wie beim letzten Mal, mit seinem blonden
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