Hades

den Mund. Offensichtlich hatte sie zu viel gesagt.
    «Ist schon gut, Hanna», sagte ich. «Du kannst mir alles sagen. Ich werde nichts ausplaudern.»
    «Ich darf nicht mit Ihnen sprechen. Wenn der Prinz dahinterkommt …»
    «Du meinst Jake?», schnaubte ich. «Er ist kein Prinz.»
    «So etwas sollten Sie nicht laut sagen, Miss», flüsterte Hanna. «Er ist der Prinz des Dritten Zirkels, und Verrat ist ein Kapitalverbrechen.»
    Ich sah sie verwirrt an.
    «Diese Welt besteht aus neun Zirkeln, über die jeweils ein Prinz herrscht», erklärte sie daraufhin. «Für uns ist Mr. Thorn zuständig.»
    «Welcher Idiot hat dem denn so viel Macht gegeben?», blaffte ich. Doch als ich die Panik in Hannas Gesicht sah, schlug ich einen anderen Tonfall an. «Ich meine … Wie ist es dazu gekommen?»
    «Er ist einer der Ursprünglichen.» Hanna zuckte die Achseln, als ob diese fünf Worte alles erklärten.
    «Von denen habe ich schon mal gehört», sagte ich nachdenklich. Mein Bruder Gabriel hatte sie erwähnt. Es waren irgendwelche Wesen, die so alt waren wie die Schöpfung und die Zeit.
    «Als Opa Luzi in Ungnade fiel …», begann Hanna und warf verstohlene Blicke in Richtung Tür.
    «Stopp», unterbrach ich sie. «Was hast du gerade gesagt?»
    «So nennen wir ihn hier unten.»
    «Wen?»
    «Sie kennen ihn vermutlich als Satan oder Luzifer.»
    Ich spürte, wie die Puzzleteile in meinem Kopf an ihren Platz rutschten und ein Ganzes zu bilden begannen.
    «Als Luzifer vom Himmel verbannt wurde, haben ihm acht Engel Gehorsam geschworen …», setzte ich ihre Geschichte fort.
    «Genau.» Hanna nickte eifrig.
    «Michael verbannte sie zusammen mit ihrem rebellischen Anführer, und sie wurden die allerersten Dämonen. Seitdem nutzen sie jede Gelegenheit, Leid über die Erde zu bringen, als Rache für ihre Vertreibung.» Ich unterbrach mich selbst, um all das Unglaubliche sacken zu lassen. Plötzlich kam mir ein paradoxes Bild in den Sinn.
    «Was ist, Miss?», fragte Hanna, die meinen kritischen Gesichtsausdruck bemerkte.
    «Schwer vorstellbar, dass Jake einmal ein Engel gewesen sein soll», sagte ich.
    «Schwer würde ich das nicht nennen, eher unmöglich», erwiderte Hanna so unverblümt, dass ich lächeln musste.
    Trotzdem konnte ich den Gedanken nicht abschütteln. Jake und ich hatten den gleichen Stammbaum. Den gleichen Schöpfer. Dieser Gedanke war schon immer da gewesen, aber ich hatte ihn nie vertieft, sondern vielmehr verdrängt. Was aus Jake geworden war, war so unendlich weit von seinem Ursprung entfernt. Es ging einfach nicht in meinen Kopf, dass der Jake, den ich kannte – der Jake, der versucht hatte, meine Stadt und die Menschen, die ich liebte, zu zerstören –, einmal so gewesen war wie ich. Ich erinnerte mich jetzt wieder, was es mit den Ursprünglichen auf sich hatte. Sie waren Luzifers treueste Diener, waren von Anfang an an seiner Seite gewesen. Im Laufe der Geschichte hatte er sie immer wieder in Menschengestalt schlüpfen lassen und dafür gesorgt, dass sie die höchsten und wichtigsten Posten der Gesellschaft einnahmen. Sie hatten sich in die Gemeinschaften und Gemeinden auf der Erde eingeschlichen und ihren verderblichen Einfluss auf die Menschen spielen lassen. Polizei und Gesetz auf allen Ebenen hatten sie durchdrungen und sich damit in die Lage versetzt, Zerstörung anzurichten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Ihr Einfluss war pures Gift. Sie lullten die Menschen ein, nutzten ihre Schwächen aus und zogen daraus ihre Vorteile.
    Ein beängstigender Gedanke durchzuckte mich: Wenn Jake für eine höhere Macht arbeitete, war dann er selbst verantwortlich für das, was mir bisher passiert war, oder jemand anderes?
    «Ich frage mich, was Jake dieses Mal vorhat», murmelte ich.
    «Das ist einfach», sagte Hanna in ihrem lustigen, steifen Dialekt. Sie schien begierig, nützlich zu sein, froh, mir Informationen weitergeben zu können, die ich noch nicht hatte. «Er möchte einfach nur, dass Sie glücklich sind. Schließlich werden Sie ja seine Braut.»
    Zuerst lachte ich, denn ich hielt es für einen grausamen, geschmacklosen Witz. Aber als ich Hanna mit ihrem runden, kindlichen Gesicht und den großen braunen Augen ansah, wusste ich, dass sie nur wiederholte, was man ihr gesagt hatte.
    «Ich muss unbedingt mit Jake sprechen», sagte ich langsam und versuchte, nicht in Panik zu geraten. «Sofort. Kannst du mich zu ihm bringen?»
    «Ja, Miss», antwortete sie sofort. «Der Prinz wollte Sie sowieso