Hades
neben ihm. Wir bildeten ein klägliches Paar – der Junge und die Erscheinung, die er nicht sehen konnte, die ihn aber mehr liebte als alles andere auf der Welt.
Seit ich fort war, schienen sich alle völlig untypisch zu verhalten. Auch Gabriel tat jetzt etwas, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er durchquerte den Raum, kniete sich vor Xavier hin und legte ihm die Hand sanft auf den Arm. Es war ein wundersamer Anblick – ein Erzengel, der in Demut vor einem Menschen kniete.
«Ich werde dich nicht belügen», sagte Gabriel und sah ihm direkt in die Augen. «Ich weiß im Moment nicht, wie wir Bethany helfen können.»
Das waren die Worte, die ich am allermeisten gefürchtet hatte. Gabriel war niemand, der die raue Wahrheit schönfärbte. Das lag nicht in seiner Natur. Was er jetzt tat, war, Xavier und sich selbst auf das Schlimmste vorzubereiten.
«Was willst du damit sagen?», rief Xavier. «Wir müssen irgendetwas tun! Beth ist nicht freiwillig mitgegangen! Sie wurde entführt, schon vergessen? In meiner Welt ist das eine sehr ernste Straftat! Willst du sagen, dass das bei euch keine ist?»
Gabriel seufzte und antwortete so geduldig wie möglich. «Es gibt Gesetze zwischen Himmel und Hölle, die schon seit Anbeginn der Zeit existieren.»
«Was soll das bedeuten?»
«Gabriel will sagen, dass wir die Regeln nicht ändern können. Wir müssen auf Anweisungen warten», sagte Ivy.
«Warten?», wiederholte Xavier. Ihr Mangel an Entschlossenheit schien ihn nur noch mehr zu frustrieren. «Bitte, dann wartet meinetwegen bis zum Jüngsten Tag, aber ich werde nicht einfach nur herumsitzen!»
«Wir haben keine andere Wahl», sagte Gabriel ernst. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können, die Engel und der Sterbliche, geprägt durch ihre gegensätzlichen Blicke auf das Universum. Gabriel verlor, wie ich sah, langsam die Geduld. Xaviers unablässige Fragen erschöpften ihn. Er sehnte sich danach, in Einsamkeit mit den höheren Mächten Kontakt aufzunehmen. Xavier hingegen würde sich erst dann besser fühlen, wenn er einen Plan hatte. Er folgte den Regeln der Logik, dass es für jedes Problem eine Lösung gab und man sie nur finden musste. Ivy, die Xaviers Gefühle viel besser verstand als Gabriel, warnte ihn mit einem Blick, mit Xavier behutsamer umzugehen.
«Du kannst dir sicher sein: Wenn es einen Weg gibt, werden wir ihn finden», sagte sie aufmunternd.
«Das wird aber nicht leicht», schränkte Gabriel ein.
«Aber es ist nicht unmöglich, oder?» Ich spürte, dass Xavier verzweifelt nach jedem Strohhalm griff, so dünn er auch sein mochte.
«Nein, unmöglich nicht», sagte meine Schwester mit schwachem Lächeln.
«Ich möchte gerne helfen», sagte Xavier.
«Das wirst du auch, aber jetzt müssen wir uns erst einmal in aller Ruhe den nächsten Schritt überlegen.»
«Wenn wir die Dinge überstürzen, könnte das für Bethany nur noch alles schlimmer machen», warnte Gabriel.
«Wie kann es denn noch schlimmer werden?», fragte Xavier.
Je länger ich ihrem Gespräch zuhörte, desto frustrierter wurde ich. Wie gern hätte ich mich eingemischt und ihnen geholfen. Es war schrecklich, dass sie in der dritten Person über mich redeten, obwohl ich im Zimmer war! Dabei aber völlig nutzlos zu sein, machte mich so verrückt, dass ich fürchtete zu explodieren. Wie war es nur möglich, dass sie meine Nähe nicht spürten? Alle meine Lieben waren nur eine Handbreit entfernt und doch völlig unerreichbar!
«Wir dürfen ohne Anweisungen nicht agieren», versuchte Ivy zu beschwichtigen.
«Und wann bekommt ihr welche?»
«Der Bund ist sich der Krise bewusst. Sie werden uns kontaktieren, wenn sie es für angemessen halten.» Gabriel vermied es, mehr preiszugeben.
«Und was machen wir bis dahin?»
«Beten, würde ich vorschlagen.»
Angst überkam mich. Selbstverständlich konnten sie nichts unternehmen, ohne Rat von oben einzuholen. Das war nicht nur das normale Vorgehen, sondern auch klug, und ich wusste das. Doch was würde der Bund ihnen raten? Gabriel hatte zwar gerade sehr zuversichtlich geklungen, aber auch in seiner Macht stand es nicht, gegen ihre Entscheidungen zu verstoßen. Was, wenn sie in ihrer unendlichen Weisheit beschlossen, mich als Verlust zu verbuchen? Schließlich war ich während meiner Zeit auf der Erde nicht wirklich ein Gewinn gewesen. Ständig hatte ich für Ärger gesorgt und Konflikte heraufbeschworen, mit denen sie sich herumschlagen mussten, statt ihren Weisungen zu folgen.
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