Hades
Gehorsam war nicht gerade meine Stärke, und auch wenn von den Menschen Rebellion durchaus erwartet wurde, war es für einen Engel unentschuldbar. Würde dieses Verhalten, das mich von meiner eigenen Art entfremdet hatte, jetzt darüber entscheiden, wie wertvoll ich für den Himmel war?
Doch auch wenn der Bund großherzig war und mich der Rettung würdig erachtete, würde es für meine Geschwister eine große Herausforderung bedeuten, in die Hölle einzudringen. Vielleicht würden sie bei dem Versuch sogar selbst zugrunde gehen. War es das wert, ein solches Risiko einzugehen? Ich wollte ihre Sicherheit nicht gefährden, auch wenn mein Verlangen, wieder bei ihnen zu sein, unermesslich groß war. Und was Xavier betraf, konnte ich noch nicht einmal den Gedanken ertragen, dass ihm meinetwegen etwas zustieß. Lieber würde ich die Qualen der Höllengrube ertragen.
Ich betrachtete seine glatten, gebräunten Arme, die auf der Tischplatte ruhten, das vertraute geflochtene Lederband an seinem Handgelenk und den silbernen Ring, den ich ihm geschenkt hatte und der an seinem Zeigefinger glänzte. Dann beugte ich mich zu ihm hinunter und berührte seine Hand.
«Xavier», rief ich. «Xavier, ich bin hier!»
Zu meiner eigenen Überraschung nahm ich ein leises Echo meiner Worte im Zimmer wahr. Gabriel, Ivy und Xavier rissen alle drei die Köpfe hoch und schauten in meine Richtung, als ob sie ein Funksignal empfangen hätten. Auf Xaviers Gesicht trat ein ungläubiger Ausdruck, als ob er sich seiner Sinne nicht mehr sicher war. «Dreh ich jetzt durch, oder habt ihr das auch gehört?»
Meine Geschwister sahen sich an. Ihre Gesichter spiegelten Unsicherheit wider.
«Ja, wir haben es gehört», sagte Gabriel. Er sah aus, als versuchte er im Kopf bereits eine Erklärung für das zu finden, was gerade geschehen war. Ich hoffte, dass er es nicht für einen Trick der Dämonen hielt.
Ivy schloss die Augen, und ich spürte ihre Energie im Raum, spürte, dass sie mich suchte. Aber als sie die Stelle erreichte, an der ich stand, glitt sie durch mich hindurch. Die Verbindung, die ich hergestellt hatte, hatte nur wenige Sekunden gehalten und war zerrissen.
«Da ist nichts», sagte meine Schwester, aber sie wirkte unsicher.
Xavier schüttelte den Kopf. «Doch, ich habe ihre Stimme gehört … Sie war hier.»
«Vielleicht ist Bethany näher, als wir denken», sagte Gabriel.
Xaviers Blick wanderte durch das Zimmer, scannte die Luft. Ich konzentrierte mich mit aller Kraft und versuchte verzweifelt, meine Gedanken mit seinen zu verknüpfen. Doch das Gegenteil geschah, meine Anwesenheit wurde plötzlich schwächer, dünner. Als ich spürte, wie mein Bewusstsein aus der vertrauten Küche in Haus Byron herausgezogen wurde, kämpfte ich dagegen an, versuchte sogar, mich an einem Stuhl festzuhalten, aber der Raum löste sich einfach um mich herum auf.
Alles wurde schwarz, und als die Dunkelheit schwand, sah ich meinen Körper vor dem See der Träume liegen, genau wie ich ihn verlassen hatte. Tucker schüttelte mich an den Schultern.
«Komm zurück, Beth. Es ist Zeit zu gehen.»
Mit einem Ruck nahm ich wieder von meinem Körper Besitz. Die Wärme von Haus Byron war verschwunden, alles, was ich spürte, waren die Kälte und die Feuchtigkeit des Kanals.
«Warum hast du das getan?!», protestierte ich lautstark. «Ich wollte noch bleiben.»
«Wir sind schon ziemlich lange weg. Es wird zu riskant. Aber keine Sorge, du hast den Zauber jetzt in dir.»
«Willst du damit sagen, dass ich jederzeit nach Hause kann?»
«Ja», sagte Tucker stolz. «Wer einmal vom See der Träume getrunken hat, trägt ihn in sich. Seine Kraft ist teilbar. Du kannst es nur rückgängig machen, wenn du vom Wasser der Lethe trinkst.»
«Diesen Fluss gibt es wirklich?», fragte ich erstaunt.
«Natürlich», sagte Tucker. «Der Name bedeutet wörtlich ‹Vergessen›. Man vergisst dort, wer man ist.»
«Das klingt schrecklich. Ist er verflucht?»
«Nicht unbedingt», sagte Tucker. «Manche Leute haben Dinge in ihrem Leben getan, an die sie nicht mehr denken möchten. Wenn du von den Wassern der Lethe trinkst, sinken all deine schlechten Erinnerungen auf den Grund.»
Ich sah ihn prüfend an. «Du weißt ja sehr gut Bescheid. Kennst du jemanden, der das getan hat?»
«Ja.» Tucker blickte auf seine Schuhspitzen. «Und zwar mich.»
«Was wolltest du hinter dir lassen?», fragte ich, ohne nachzudenken, und Tucker lachte.
«Die Frage ist jetzt ziemlich sinnlos,
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