Hades
lagen, würde das eine Art Talisman sein.
Als Hanna mit dem Abendessen vor mir stand, war daher mein erster Impuls, sie fortzuschicken. Ich konnte es nicht mehr erwarten, in mein breites Bett zu klettern und nach Hause zu gleiten. Doch dann sah Hanna mich so an, wie sie es immer tat, als ob sie sich wünschte, mehr für mich tun zu können. Obwohl sie jünger wirkte als ich, hatte sie mir gegenüber eine Mütterlichkeit entwickelt wie zu einem Küken, das man schützen und füttern musste. Und so aß ich ihr zuliebe ein paar Bissen von dem, was sie zubereitet hatte – knuspriges Brot, Eintopf und Obstkuchen. Trotzdem verließ sie das Zimmer nicht sofort wieder, sondern trödelte herum, als ob sie noch etwas sagen wollte.
«Miss», begann sie dann auch schließlich, «wie war Ihr Leben, bevor Sie hierherkamen?»
«Ich habe in einer kleinen Stadt gewohnt, wo jeder jeden kannte, und war im letzten Jahr auf der Highschool.»
«Aber dort kommen Sie nicht ursprünglich her.»
Ich sah sie überrascht an. Spielte Hanna tatsächlich auf mein himmlisches Zuhause an? Ich war von meiner Zeit auf der Erde so daran gewöhnt, mein Geheimnis zu wahren, dass ich immer wieder vergaß, dass hier jeder davon wusste.
«Ja, ich habe nicht immer in Venus Cove gelebt», gab ich zu. «Aber es ist meine Heimat geworden. Ich bin auf eine Schule namens Bryce Hamilton gegangen und hatte eine beste Freundin, Molly.»
«Meine Eltern haben in einer Fabrik gearbeitet», sagte Hanna plötzlich. «Ich konnte nicht zur Schule gehen, wir waren zu arm.»
«Hattet ihr zu Hause Bücher?»
«Ich habe nie lesen gelernt.»
«Es ist nie zu spät», sagte ich ermutigend. «Wenn du willst, bringe ich es dir bei.»
Statt sie aufzuheitern, schienen meine Worte auf Hanna den gegenteiligen Effekt zu haben. Sie senkte den Blick, während ihr Lächeln erstarb.
«Es macht jetzt keinen Sinn mehr, Miss», sagte sie.
«Hanna», begann ich und versuchte, meine Worte mit Bedacht zu wählen. «Darf ich dich etwas fragen?»
Sie warf mir einen ängstlichen Blick zu, nickte dann aber.
«Wie lange bist du schon hier?»
«Über siebzig Jahre», antwortete sie resigniert.
«Und wie ist jemand, der so nett und freundlich ist wie du, hier gelandet?», fragte ich.
«Das ist eine lange Geschichte.»
«Ich würde sie gerne hören», sagte ich.
Hanna zuckte die Achseln. «Es ist nicht besonders spannend. Ich war jung. Ich wollte jemanden retten, so dringend, dass ich dafür meine Seele verkauft hätte. Also schloss ich einen Pakt, verkaufte mich selbst an dieses Leben, und als ich erkannte, welchen Fehler ich begangen hatte, war es zu spät.»
«Was würdest du anders machen, wenn du die Zeit zurückdrehen könntest?»
«Ich würde vermutlich versuchen, mein Ziel auf anderem Weg zu erreichen.» Hannas Blick verschleierte sich, und sie starrte gedankenverloren und wehmütig in die Ferne.
«Du bereust also, was geschehen ist. Du warst zu jung, um zu wissen, was du tust. Wenn meine Familie mich holt, nehmen wir dich mit. Ich lasse dich nicht hier zurück.»
«Machen Sie sich um mich keine Sorgen, Miss. Es war meine freie Entscheidung herzukommen, und ein solcher Handel ist unwiderruflich.»
«Oh, da bin ich mir nicht so sicher», sagte ich forsch. «Man kann immer neu verhandeln.»
Hanna lächelte und vergaß für einen Moment ihre Vorsicht. «Ich wünsche mir Vergebung», sagte sie leise. «Aber hier ist niemand, bei dem ich darum bitten kann.»
«Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du mir alles erzählst.»
Auch wenn ich es kaum erwarten konnte, zu Xavier zurückzukehren, durfte ich Hannas Hilfeschrei nicht ignorieren. Sie hatte sich in all den dunklen Stunden um mich gekümmert, und ich war ihr etwas schuldig. Außerdem war ich erst seit ein paar Tagen in Hades. Hanna trug ihre Last schon seit Jahrzehnten. Das Mindeste, was ich tun konnte, war, sie zu trösten, falls es in meiner Macht stand. Ich rutschte zur Seite, um Platz für sie zu machen, und klopfte einladend auf das Bett. Für einen unbedarften Zuschauer hätte es so ausgesehen, als wären wir zwei Teenager, die Geheimnisse austauschten.
Hanna warf einen zögernden Blick zur Tür, bevor sie sich neben mich setzte. Sie schien sich unwohl zu fühlen, denn sie senkte den Blick und nestelte nervös an den Knöpfen ihrer Uniform herum. War sie sich nicht sicher, ob sie mir trauen konnte? Falls ja, war das kein Wunder. Sie war ganz allein in Jakes unterirdischem Reich. Niemand sprach je ein gutes Wort
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